Riskant – aber nicht gefährlich

KURZ GESAGT!

_Die Risikokompetenz zu fördern, bereitet Kinder auf die Herausforderungen des Lebens vor

_Geschützte Erfahrungsräume ermöglichen den Kindern, Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten zu entwickeln

_Das Fachkräfte-Team benötigt eine klare, positive Haltung

Im Bewegungsraum beginnt gerade Alessios große Flugshow. Der Junge sitzt in der Schaukel, die aus einem Hängemattentuch besteht und sicher an der Decke befestigt ist. Er nimmt ordentlich Anlauf, stößt sich ab und dann geht’s rasant im Kreis. Knapp außerhalb der Flugkurve stehen drei andere Kinder, die aufgeregt auf ihren Einsatz warten, dabei ihren Freund aber fair anfeuern. „Es gibt natürlich auch mal Konflikte, wenn jemand zu lange warten muss“, sagt Tamara Klos-Walter, Erzieherin in der Sport-Kita Rankbachstraße in Renningen. „Aber die Kinder lösen sie dann meistens gemeinsam.“

Für Alessio geht’s inzwischen ein bisschen höher und ein bisschen schneller hinaus – aber zum Glück nicht weiter. Denn sollte er bei dem Tempo den Abflug machen, dürfte es zumindest mal eine Schramme oder einen blauen Fleck geben.

Kleiner Unfall – viel gelernt

Wobei auch solche kleinen Unfälle durchaus vorkommen, in der Regel bleibt es aber bei einem Schreckmoment. Dann trösten die pädagogischen Fachkräfte das Kind, schauen, ob es ein Pflaster oder ein Kühlpad braucht, und suchen feinfühlig das Gespräch: Was ist passiert? Und warum? „Mein Ziel ist es, dass die Kinder nicht mit Angst aus der Situation rausgehen, sondern mit einem positiven Gefühl“, sagt Tamara Klos-Walter. Also: Wieder rauf auf den Kasten, ran an die Sprossenwand oder rein in die Schaukel. „Wenn die Kinder bei kleinen Unfällen das Fallen gelernt haben, werden sie sich bei größeren Unfällen weniger schwer verletzen“, hebt die Erzieherin auf den Lerneffekt ab. Der Erwerb von Risikokompetenz als Präventionsmaßnahme also.

Damit die Kinder diese Erfahrungen sammeln können, muss die Umgebung sicher sein. So haben die Erzieherinnen die Schrankwand, die der Schaukel am nächsten ist, mit zwei Turnmatten abgesichert. Sollten die Fliehkräfte doch einmal zu stark werden und ein Kind aus der Schaukel fallen, würde es gegen die weichen Matten statt gegen hartes Holz prallen. Risiko ist ausdrücklich erwünscht – gefährlich darf es jedoch nicht werden!

Umsicht lernen beim wilden Schaukeln

Alessio hätte die Matten nicht gebraucht. Trotz wildestem Schaukeln sitzt der Junge sicher im Hängemattentuch. Dafür allerdings fliegt ihm einer seiner Gymnastikschuhe vom Fuß. Lilly, die später auch wild schaukelt, macht sich sofort auf den Weg, um den Schlappen zu holen. Dazu muss sie die Flugbahn kreuzen, passt aber richtig gut auf. Auch Alessio hat seine Spielkameradin im Blick. Tamara Klos-Walter steht etwas abseits des Geschehens, lässt die Kinder gewähren, hat die Szene jedoch genau im Blick und greift nur im Notfall ein. „Meine Aufgabe ist das Beobachten. Die Kinder sollen selbst lernen, umsichtig zu sein. Das ist ja zum Beispiel auch im Straßenverkehr wichtig“, erklärt die Erzieherin.

Die Schaukel aus einem Hängemattentuch ist bei den Kindern sehr beliebt. Lilly hat sichtlich Spaß am „Fliegen“.

Die Fachkräfte benötigen ihrerseits Sicherheit im Handeln. „Da kommt es auf meine innere Haltung an“, betont Tamara Klos-Walter. Ihre hat sie bei der Weiterbildung zur Psychomotorikerin entwickelt: Sie nimmt sich selbst zurück und gibt den Kindern Raum zur freien Entfaltung. „Kinder wagen sich an Herausforderungen, wenn sie sich dafür bereit fühlen.“ Sie lasse sie ihren Weg finden und ihre Grenzen austesten: „Risikokompetente Kinder spüren, wenn sie einen Plan aufgeben oder ändern müssen. Sie merken, wann es zu gewagt wird und sie sich zurückziehen müssen.“ Kurz gesagt: Sie werden auch in herausfordernden Situationen handlungsfähig.

Auf den Füßen, auf den Knien oder auf dem Popo? Die Kinder bewältigen die Bank auf ihre Weise. Alessio geht es hoch konzentriert an.

Rutsche rauf statt Rutsche runter

Die Vermittlung von Risikokompetenzen schwingt in der Sport-Kita bei vielen Aktivitäten mit. „Wir leben das im ganzen Haus und draußen auf dem Außengelände“, unterstreicht Kitaleiterin Margit Hartmann. Ein Kind will die Rutsche hinaufklettern statt hinunterzurutschen? „Ja, wir erlauben das!“, sagt Margit Hartmann. Darin stecke schließlich eine Menge Entwicklungspotenzial. Vielleicht klettert das Kind beim ersten Mal auf allen vieren hoch, irgendwann dann jedoch schon im Stehen. „Aber es braucht Regeln und Absprachen“, stellt die Kitaleiterin klar. In diesem Fall ist sie so einfach wie einleuchtend: „Diejenigen, die oben auf der Rutsche sind, müssen dann warten.“

Die Fachkräfte sind mit den Kindern oft im Freien unterwegs. Mittwochs ist zum Beispiel „Draußen-Tag“, da lernen die Vorschulkinder, auf dem Weg zum Spielplatz im Straßenverkehr Verantwortung zu übernehmen. Im Garten gibt es Projekte, bei denen die Kinder den Umgang mit Werkzeugen ausprobieren. Selbstverständlich müssen die Erzieherinnen und Erzieher dabei aufpassen, damit sich niemand verletzt. Aber Margit Hartmann verweist auch hier auf die pädagogische Haltung, den Kindern ihre Erfahrungsfreiräume zu lassen und den Kindern viel zuzumuten, denn: „Mut überwindet die Angst.“

Naturerfahrungen fördern auch soziale Kompetenzen

Einmal im Jahr ist außerdem Waldwoche. „Die Natur hält viel für uns bereit, um die Risikokompetenz zu fördern“, sagt Margit Hartmann. Koordination und motorische Fähigkeiten einerseits, das soziale Miteinander andererseits. „Zum Beispiel, dass ich meinem Freund auf den Baum hoch helfe, weil ich mit ihm dort sitzen möchte, er es aber allein nicht schafft.“

Manchmal muss Margit Hartmann zwischen Fachkräften vermitteln, wenn es um die Frage geht, was man den Kindern zutrauen könne. Ihre Haltung dazu: eine ganze Menge. Und sie gibt ihrem Team den Tipp mit auf den Weg, das Kind mit in seine eigene Ver-antwortung nehmen: „Fragt es doch, ob es sich diese oder jene Herausforderung zumutet – das wissen Kinder schon sehr gut.“

Die Eltern mit ins Boot nehmen

Vermitteln muss die Kitaleiterin den pädagogischen Ansatz, der in der pädagogischen Konzeption formuliert ist, auch an die Eltern. Sollte es zu einem kleinen Unfall kommen, erkläre man ihnen, was passiert sei, warum es passiert sei und dass das Kind daraus lerne. „Wir versuchen, die Eltern gut mitzunehmen und Verständnis zu wecken. Transparenz ist uns sehr wichtig.“

Ganz anschaulich wird es, wenn die Kita die Eltern einlädt, sich selbst ein Bild von den Aktivitäten in den Bewegungslandschaften der Sporthalle zu machen. „Damit sie sehen, was ihre Kinder bereits an Erfahrungsschätzen gesammelt haben, wie sie selbst ihre eigenen Grenzen erweitert haben und was wir ihnen zutrauen.“

Zurück im Bewegungsraum. Dort dürfen sich die Kinder wie kleine Bergsteigerinnen und Bergsteiger fühlen. So toll Schwingschaukel oder Wippe auch sind – die Kletterlandschaft ist heute das Highlight. Über einen Kasten und eine schräge Ebene machen sich die Mädchen und Jungen auf den Weg zur Sprossenwand. Die könnte genauso gut die Eiger-Nordwand sein. Jedenfalls stecken die Nachwuchs-Messners in professionellen Klettergurten, an denen Seile mit Karabinerhaken befestigt sind. Am „Gipfel“ angekommen sichern sie sich und balancieren über ein Seil. Ein großes Abenteuer in 1.500 … ach nein … doch nur eineinhalb Meter Höhe.

„Die Sicherung bräuchten die Kinder eigentlich gar nicht“, schmunzelt Heike Hehr. „Aber es macht ihnen riesigen Spaß.“

Moritz hängt sich richtig rein. Das erfordert Kraft und Geschicklichkeit.

Die Erzieherin klettert selbst gern und war früher Übungsleiterin im Turnverein. Sie hat also genug Erfahrung und noch dazu reichlich Fantasie, um einen solch spannenden Hochseilgarten zu kreieren und ihn mit Fallschutz abzusichern.

Die Kinder wachsen mit jedem Hindernis

Karl kommt aus einem kletterbegeisterten Elternhaus. Dem Jungen gefällt das Kraxeln, „weil ich gerne irgendwo oben bin. Und weil man davon kräftig wird“. Die ganz große Herausforderung ist der Parcours für ihn nicht. Leichtfüßig geht er die Ebene hoch, bringt den Karabiner gekonnt an, greift beherzt in die Sprossenwand und steht schon bald sicher auf dem Balancierseil. Dann zeigt er auf ein Sicherungsseil: „Du kannst dich da dranhängen“, sagt er zu Chiara, die mit fragendem Blick und dem Karabiner in der Hand vor der Sprossenwand steht.

„Die Jüngeren brauchen noch ein bisschen mehr Unterstützung“, sagte Heike Hehr. „Sie wachsen aber mit jeder Kletterrunde und mit jedem Hindernis, das sie überwinden.“ Da steckt ja auch eine Menge Lernpotenzial drin: nicht nur balancieren und klettern, sondern auch Hand-Auge-Koordination. Und natürlich aufpassen, dass sie nicht über das Seil an ihrem Klettergurt stolpern.

Das bewegt sich aber ganz ordentlich! Für Alessio und Ronja sind die Rollen eine wackelige Angelegenheit.

„Ich vertraue dem Kind und greife nicht ein“

Heike Hehr bemüht sich, bei den Bewegungsangeboten die richtige Balance zu finden. Zu klein darf die Herausforderung nicht sein, zu riskant darf es aber auch nicht werden. Den forschen Kindern gibt sie Tipps, worauf sie achten müssen. Den ängstlichen Kindern gibt sie Sicherheit, indem sie in der Nähe bleibt und ihnen Mut zuspricht. Wie ihre Kollegin Tamara Klos-Walter betont aber auch Heike Hehr: „Ich vertraue dem Kind und greife nicht ein.“ Wenngleich sie zugibt, dass sie die Kinder in manchen Situationen schon gern festhalten oder ihnen die Hand als Hilfestellung anbieten würde. „Ich bin aber eher ein entspannter Typ und kann viel aushalten“, sagt sie. Selbst wenn es mal zu einer Bruchlandung kommt.

Viel schöner ist es für Heike Hehr allerdings, die Kinder beim Wachsen zu beobachten. Nicht nur buchstäblich im Laufe ihrer Kitazeit, sondern auch beim Wachsen an den Herausforderungen. „Erst haben sie vielleicht ein bisschen Angst, dann klettern sie stolz und mit leuchtenden Augen von der Sprossenwand, wenn sie es geschafft haben.“

An ein solches Beispiel erinnert sich Margit Hartmann gut. Ein Kind hing weit oben, traute sich aber nicht, ganz über die Sprossenwand zu klettern. Es stieg wieder hinab, setzte sich ein paar Minuten auf den Boden, beobachtete die anderen – und nahm schließlich einen zweiten Anlauf. Dieses Mal klappte es. „Du darfst nur nicht an die Angst denken“, sagte das Kind anschließend zur begeisterten Margit Hartmann. „Dahinter steckt ja nicht nur Risikokompetenz, das ist Lebenskompetenz“, zieht die Kitaleiterin das Fazit.