Agieren statt reagieren

Kinder dürfen ruhig mal traurig sein, mal aufgedreht – und auch mal aggressiv. Sie lernen so, sich selbst zu behaupten und Grenzen zu setzen. Das ist Teil ihrer Entwicklung. „Erst wenn sich das Verhalten eines Kindes über einen längeren Zeitraum oder in besonders starker Ausprägung vom Verhalten Gleichaltriger unterscheidet, kann man überlegen, von einer Verhaltensauffälligkeit zu sprechen“, sagt der Entwicklungspsychologe Herbert Scheithauer.

 

KURZ GESAGT!

_Ursachen für auffälliges Verhalten herausfinden

_Negatives Verhalten nicht durch Aufmerksamkeit verstärken

_Entwicklungsstand und Kontext sind wichtig

 

Auffälligkeit oder Temperament?

Doch auch in diesem Fall sollten Erzieherinnen und Erzieher noch zwei wichtige Aspekte bedenken. Erstens: Stimmt meine Wahrnehmung? Verhaltensauffälligkeiten würden gelegentlich mit Temperamentsunterschieden verwechselt, weiß Scheithauer. So könne etwa eine ruhige Erzieherin das Verhalten eines sehr lebhaften Kindes leicht als problematisch wahrnehmen. Zweitens: Auch Kinder derselben Altersgruppe können sehr unterschiedlich sein in ihren Wesenszügen und den Kompetenzen, die sie mitbringen. „Das muss keine Verhaltensauffälligkeit sein“, betont der Professor der Freien Universität Berlin. „Es kann sein, dass das eine Kind in seiner sozialen und emotionalen Entwicklung noch nicht so weit ist wie das andere.“

Erzieherinnen und Erzieher sollten versuchen, die Ursachen für das problematische Verhalten herauszufinden. In der Regel wissen sie, ob das Haustier gestorben ist, ein Brüderchen geboren wurde oder die Eltern gerade Streit haben. Das Risiko von auffälligem, aggressivem Verhalten ist vor diesem Hintergrund erhöht. Aber es sollte sich bald wieder einrenken.

Anders gelagert ist der Fall, wenn Kinder bereits aggressives Verhalten erlernt haben, etwa durch Modelle in der Familie oder in den Medien. „Ein Elternteil schreit häufig und setzt durch dieses aggressive Verhalten seine Ziele durch“, veranschaulicht Scheithauer exemplarisch. „Das Kind lernt: So erreiche ich, was ich will. Und so verhält es sich dann auch in der Kita.“ Was bei diesen Kindern helfen kann: in diesem Moment nicht auf das unangemessene Verhalten eingehen. Sonst lernt das Kind, dass es tatsächlich Aufmerksamkeit bekommt, wenn es schreit, tobt, Quatsch oder Krach macht – selbst wenn die Aufmerksamkeit aus Ermahnungen besteht. Das negative Verhalten wird somit noch verstärkt. Stattdessen sollten sich die Fachkräfte dem Kind dann zuwenden, wenn es sich nicht mehr unangemessen oder sogar positiv verhält: „Toll, Jochen, was du da mit Lego baust! Das sieht wirklich schön aus“, nennt Scheithauer ein Beispiel.

Überhaupt blühen Kinder regelrecht auf, wenn sie angemessen Lob erhalten. Haben Kinder positives, prosoziales Verhalten gezeigt, sollte das Kitapersonal ihnen das auch sagen. „Jochen, das hast du toll gemacht, dass du den Bauklotz abgegeben hast. Guck mal, wie Jacqueline sich freut, dass sie jetzt mitspielen kann“, veranschaulicht Scheithauer. „Auf längere Sicht habe ich dadurch viel dafür getan, dass sich seltener aggressives Verhalten zeigt.“

Zum Nachdenken und Nachfühlen anregen

Wird ein Kind gegenüber anderen aggressiv, hilft es, ihm die Auswirkungen seines Verhaltens zu verdeutlichen und es zum Nachdenken anzuregen. Scheithauer: „Jochen, wenn du ihr den Bauklotz wegnimmst: Was meinst du, wie Jacqueline sich dabei fühlt? Wie würdest du dich fühlen?“ Dafür müssen die Kinder in der Lage sein, ihr eigenes Verhalten regulieren und sich in andere hineinversetzen zu können. Eine Frage des Alters und des Entwicklungsstandes sowie des Kontextes.

Zum Kontext gehört auch, die Wahrnehmung und Bedürfnisse der Kinder einer Gruppe im Blick zu haben und auszutarieren. Ein sehr lebhaftes Kind in einer sehr ruhigen Gruppe oder zwei sehr lebhafte Kinder in derselben Gruppe – beides könnte problematisch werden. „Als Erzieherin muss ich sehr feinfühlig sein und die Kinder auf eine Ebene bringen“, sagt Scheithauer.

Das funktioniert über klare Regeln, die in der Kita aber nicht starr festgelegt sein, sondern für die Entwicklung genutzt werden sollten. Beispiel Bauklötze: Nicht alle können immer damit spielen. Jochen hätte zwar Lust darauf, wäre aber eigentlich nicht dran. „Jochen ist heute traurig. Wollen wir ihm nicht einen Bauklotz abgeben?“, beschreibt Scheithauer ein Szenario. Gesagt, getan. „Und dann erleben Kinder etwas total Schönes im zwischenmenschlichen Bereich.“

Die Kinder mit proaktivem Verhalten zu erreichen, ist für Herbert Scheithauer der Schlüssel für einen wertschätzenden Umgang miteinander: „Dann werde ich in Zukunft mit geringerer Wahrscheinlichkeit aggressives Verhalten erleben.“

 

Verhaltensauffälligkeiten

  • Verhaltensdefizit: Kinder sind sehr ruhig und emotional gehemmt. Sie haben beispielsweise Ängste, sind sehr schüchtern und ziehen sich zurück.
  • Verhaltensexzess: Kinder zeigen hyperaktives oder aggressives Verhalten in hoher Frequenz und sehr intensiv. Sie sind beispielsweise leicht ablenkbar oder impulsiv, sie schlagen und treten andere oder beschädigen Gegenstände.
  • Verhaltensstörung: Kinder zeigen konstant über einen langen Zeitraum ein Bündel negativer Verhaltensweisen. Sie sind beispielsweise sehr egoistisch, können sich nicht gut in andere hineinversetzen und sind unsensibel gegenüber Gefühlen anderer, ihnen fehlt es an Schuldbewusstsein, sie deuten das Verhalten anderer falsch und reagieren darauf mit Gewalt, sie drangsalieren andere oder quälen Tiere.

Bei einigen Kindern lässt sich mit erzieherischen Maßnahmen nichts mehr bewirken, sodass ein Kinder- und Jugendpsychologe hinzugezogen werden sollte. Ist ein Kind gegenüber anderen über einen längeren Zeitraum aggressiv und gewalttätig, sollte die Kita das Gespräch mit den Eltern suchen.