Zuerst die Bilderbücher, danach die Bauklötze, zum Schluss die Puppen und die Verkleidungskiste. In Windeseile räumen die Kinder das gesamte Spielzeug aus den Schränken, packen alles in Pappkartons. Mindestens sechs Wochen lang werden sie nicht mehr angerührt. Jedes Frühjahr ist in der Kita „7 Raben“ in Greifswald spielzeugfreie Zeit angesagt. „Damit wollen wir die Lebenskompetenzen der Kinder stärken“, sagt Kitaleiterin Heike Rieck vom Institut Lernen und Leben e. V. in Mecklenburg-Vorpommern. Die Pädagogin staunt jedes Jahr aufs Neue, was für tolle Ideen die Kinder in dieser Zeit entwickeln, wie selbstbewusst sie werden – und wie stark sich ihre Sprachkompetenz und Konfliktfähigkeit verbessern.
KURZ GESAGT!
- Für die Vorbereitung genug Zeit einplanen
- Durchführung im Sommerhalbjahr ermöglicht es, viel draußen zu spielen
- Im Vorfeld schon Naturmaterialien, Kartons und Pappröhren sammeln
- Gute Kommunikation mit den Eltern und auch die Kinder aktiv einbeziehen
Doch obwohl die Mädchen und Jungen fleißig beim Wegräumen helfen, ist am Montag der Schreck erst einmal groß: Die Räume sind komplett leer, außer Tischen, Stühlen, Decken und Tüchern ist alles weg. Hinzu kommt, dass nicht nur das Spielzeug fehlt. Das Konzept setzt auch darauf, dass von den Fachkräften keine Impulse kommen. Kein Vorschlag, ein Lied zu singen oder einen Käfer im Gras zu beobachten. „Wir leben in einer Überflussgesellschaft“, meint Rieck. „Die Kinder haben oft ein Zuviel an allem, an Material und Angeboten, sowohl in der Kita als auch zu Hause.“ In der spielzeugfreien Zeit sollten die Kinder wieder stärker lernen, ihre Bedürfnisse wahrzunehmen.
Gute Vorbereitung ist entscheidend
Aufgabe der Fachkräfte sei es, die Kinder zu beobachten und zu begleiten. „Dieser Rollenwechsel fällt uns Erzieherinnen oft nicht leicht“, gesteht die Pädagogin. „Wir lieben es, den Kindern etwas zu zeigen und zu erklären.“ Doch während der spielzeugfreien Zeit beschäftigten sich die Kinder im Idealfall stundenlang, ohne ein einziges Mal die Erzieherin etwas zu fragen. Dadurch entstehe leicht das Gefühl, überflüssig zu sein. „Doch das Gegenteil ist der Fall.“ Die Kinder könnten sich nur so ausgiebig ihrem Spiel widmen, „weil wir sie so gut auffangen“, so Rieck. „Das kommt nicht aus dem Nichts.“
Die Kitaleiterin ist überzeugt, dass das Projekt nur so gut funktioniert, weil alle wissen, worum es geht – und richtig mitmachen. Deshalb führt sie jedes Jahr mit ihrem Team eine Weiterbildung durch. Zudem legt Rieck großen Wert darauf, auch Eltern und Kinder gut vorzubereiten. Schon bei der Anmeldung klärt sie die Eltern über das Projekt auf, außerdem gibt es einen Elternbrief oder Elternabend. Die Fachkräfte erklären auch den Kindern vorher ganz genau, was passiert. Sie sagen: „Wir wollen sehen, auf was für Ideen ihr kommt, wenn ihr euch langweilt.“
Aller Anfang ist schwer
Wenn es so weit ist, toben die Kinder erst einmal wild herum. „Die ersten Tage sind für die Erzieherinnen am schwersten auszuhalten“, berichtet die Leiterin. Doch schnell gewöhnen sich die Kinder an die neue Situation und genießen die Freiheit. Erlaubt ist, Naturmaterialien wie Holz oder Steine sowie Werkzeug mitzubringen. Und so basteln die Mädchen und Jungen aus Pappkartons tolle Spielhäuser, bauen Höhlen oder denken sich selbst Theaterstücke aus. „So etwas passiert in der Regel nicht in der ersten Woche“, sagt Rieck.
Die Erzieherinnen und Erzieher der Kita „7 Raben“ sind während der spielzeugfreien Zeit jeden Tag mit den Kindern im Gespräch, fragen, wie sie sich fühlen, wo sie Unterstützung brauchen. Ein Junge sagt, dass ihm die Bauklötze so fehlen. Warum? Weil er so gerne einen Turm bauen würde. Hat er vielleicht eine Idee, womit er sonst etwas bauen könnte? Der Junge überlegt kurz. Er bräuchte etwas Holz, sagt er, und eine Säge. Und schon flitzt er los.
PROJEKT ZUR SUCHTPRÄVENTION
Das Projekt wurde vor rund 30 Jahren zur Suchtprävention entwickelt. In einem Papier der Bundesarbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz e. V.(BAJ) heißt es, es gehe darum, Kindern wieder mehr Spielraum zu schaffen für Fantasie und Kreativität. Und damit auch für Selbstbestätigung und Selbstbewusstsein. Zu beobachten sei, dass die Kinder viel mehr miteinander redeten, im Team gemeinsam Lösungen fänden. Sie entwickelten eigene Themen, erlebten, dass sie für ihre Probleme auch selbst Lösungen finden können und „dass der Erfolg ihnen ganz alleine gehört“. Wissenschaftliche Studien belegen die positive Wirkung.