„Helfen ist wirklich kinderleicht“, sagt Florian Siebrecht. Seit 20 Jahren bringt er Menschen Erste Hilfe bei – inzwischen auch Kitakindern im Rahmen des Johanniter-Programms „Ersthelfer von morgen“.

Der Junge liegt reglos am Boden. Er scheint verletzt zu sein. Wie schwer, können die anderen Kinder aus der Entfernung nicht einschätzen. Sie wissen nur: Sie müssen zu ihm. Möglichst schnell. Aber auch mit der nötigen Vorsicht, ohne sich selbst oder andere in Gefahr zu bringen. „Was euch im Weg ist, räumt so beiseite, dass ihr freie Bahn habt“, hat ihnen Florian Siebrecht vorher mitgegeben. Es ist zwar nur eine Übung und sie findet in der geschützten Umgebung des integrativen Kindergartens Cantate Domino in Frankfurt am Main statt. Aber die Fünf- und Sechsjährigen nehmen dieses Spiel schon ernst. Denn sie wissen: Aus dem Spiel kann ja tatsächlich mal Ernst werden, wenn sich zum Beispiel einer ihrer Freunde verletzen sollte und wenn dann keine Erzieherin da ist, die zu Hilfe gerufen werden kann. „Es geht darum, die Kinder so früh wie möglich an die Situation Helfen heranzuführen“, sagt Siebrecht.

 

KURZ GESAGT!

  • Kinder werden spielerisch an den Ernstfall herangeführt
  • Erste Hilfe bei anderen Kindern, aber auch bei Erwachsenen
  • Die Inhalte unterscheiden sich kaum von Kursen für Erwachsene

 

Stolperfallen blockieren den Weg

Der Johanniter-Ausbilder hat den Turnraum präpariert, den die Kinder betreten haben. Große Schaumstoffklötze und Gummibälle versperren den Weg zum Freund, der so tut, als sei er bewusstlos. Was Siebrecht besonders fasziniert: Die Kinder sprechen sofort miteinander, arbeiten als Team zusammen. Welche Stolperfallen liegen herum? Wer kann was wegräumen? „Sie koordinieren sich gegenseitig – dabei haben wir das vorher gar nicht durchgesprochen. Sie tun es einfach.“

Monika Fritzsche erachtet Erste-Hilfe-Kurse für Kinder als wichtig und sinnvoll. „So werden sie spielerisch darauf vorbereitet, dass sie keine Angst haben müssen, wenn es mal einen Notfall gibt und sich jemand verletzt hat“, sagt die Leiterin des integrativen Kindergartens Cantate Domino. „Sie lernen: Was kann ich tun? Wie kann ich helfen?“

Noch dazu lernen sie schnell und sind wissbegierig. „Man kann ihnen wirklich viel zutrauen“, sagt Monika Fritzsche. Manches fällt den Kindern in den Kursen sogar leichter als Erwachsenen, die die Aufgaben oft zu verkopft und vorsichtig angingen. „Für die Kinder ist es wie ein Spiel. Sie probieren aus und haben keine Berührungsängste“, weiß die Kitaleiterin. Florian Siebrecht formuliert es so: „Wenn Kinder wissen, was sie tun können, dann tun sie es auch.“

Die Ersthelferinnen und Ersthelfer von morgen wissen nach dem Kurs, wie sie die Atmung von Bewusstlosen überprüfen.

Im Turnraum der Kita ist die Bahn nun frei und die Kinder sind beim „verletzten“ Jungen angelangt. Angucken, ansprechen, anfassen – den ersten Teil des Notfallchecks haben sie so schnell verinnerlicht wie die Notrufnummer 112 und rütteln am Jungen, als er nicht reagiert. Als Nächstes bringt Siebrecht den Kindern bei, die Atmung des „Bewusstlosen“ zu überprüfen. Die eine Hand ans Kinn, die andere an die Stirn und dann den Kopf vorsichtig nach hinten überstrecken. „Wenn das funktioniert, ist das schon der erste lebensrettende Handgriff. Viel mehr macht ein Erwachsener auch nicht, um die Atmung zu kontrollieren“, sagt Siebrecht. Durch Sehen (ob sich die Brust hebt und senkt), Hören (der Atmung im Ohr) und Fühlen (der Atemluft an der Wange) stellen die Kinder dann fest, ob der Verletzte noch atmet – das tut ihr Freund zum Glück.

Vitalfunktionen sichern

Anschließend übt die Gruppe die stabile Seitenlage. Erst untereinander, später mit Erwachsenen. Dafür legt sich Florian Siebrecht mit seinen „115 Kilogramm Lebendgewicht plus Schuhen“ auf die Matte. Sogar zierliche, vierjährige Mädchen schaffen es, das Bein des stattlichen Mannes anzuwinkeln und sich mit Schwung so dagegenzuwerfen, dass er auf die Seite fällt. Die Erzieherinnen und Erzieher sind dann meistens erstaunt, dass das klappt. „Wenn man weiß, wo die Hebel sind, braucht man keine Physikkenntnisse – man macht es einfach“, erklärt Siebrecht. „Dann wird noch der Kopf überstreckt und schon haben wir eine stabile Seitenlage. Sehr rudimentär, aber die Vitalfunktion Atmung ist damit gesichert.“

Es hat geklappt! Auch Kitakinder können stattli­che Männer in die stabile Seitenlage bringen.

Nächste Disziplin beim Erste-Hilfe-Kurs: die Wundversorgung. Mit Schockbildern oder Schmerzensschreien arbeitet Florian Siebrecht bei den Übungen nicht. „Aber was die Maßnahmen angeht, kann ich Kindern vieles genauso wie Erwachsenen zutrauen“, sagt der Johanniter-Ausbilder.

Kunstblut ja, Schockbilder nein

Zudem kommt ihm – und den Kindern – sein Hang fürs Dramatische zugute. Kein Wunder, hat der 42-Jährige doch in Gießen Theaterwissenschaften studiert. Er setzt bei den Erste Hilfe-Kursen in Kitas immer seine Requisiten für die realistische Unfalldarstellung (RUD) ein. „Wenn die Kinder eine Wunde sehen sollen, dann wird da auch Blut sein“, sagt Siebrecht. Aber nur, wenn die Kinder das auch wollen. Was jedoch spätestens dann meistens der Fall ist, wenn sich der Johanniter-Ausbilder selbst mit Kunstblut eine Wunde am Arm oder am Kopf geschminkt hat und die angehenden Ersthelferinnen und Ersthelfer sehen: alles halb so wild.

Inhaltlich unterscheidet sich das Programm nicht wesentlich von dem für Erwachsene. Verband mit Kompresse und Mullbinde. Pflaster kleben und – je nachdem, ob die Wunde am Finger, am Kinn oder am Knie ist – vorher zuschneiden. „Sofern die Kinder feinmotorisch fit genug sind und die Erzieherinnen das Okay geben, Scheren auszuhändigen“, schränkt Siebrecht ein.

Auch Trösten ist Erste Hilfe

Fünf Euro pro teilnehmendem Kind zahlen Kitas dafür, dass Florian Siebrecht einer Gruppe zwei Stunden lang Erste-Hilfe-Maßnahmen kindgerecht beibringt. Das deckt zwar nicht einmal die Materialkosten. Dafür haben die Johanniter möglicherweise ein paar „Ersthelfer von morgen“ gewonnen und die Kita hat nun ein paar selbstbewusste Kinder mehr, die wissen, dass sie im Notfall helfen können.

Wobei ohnehin jedes Kind schon einmal bei Freunden, Geschwistern oder Eltern Erste Hilfe geleistet hat – ohne es zu wissen. Denn jedes Kind hat schon einmal ein Pflaster geklebt oder jemanden getröstet. „Wundversorgung ist das eine, das andere ist die psychische Erste Hilfe. Die wird bei Erwachsenen häufig unterschätzt“, erklärt Florian Siebrecht.

Draußen wird es für die Kinder zum Abschluss noch einmal interessant. Denn dort steht der Rettungswagen – kurz: RTW – vor der Kita. „Die Kinder haben gelernt, dass es da Pflaster und Verbände gibt. Also auch nichts anderes als das, was wir im Kindergarten haben“, sagt Monika Fritzsche. „Man muss also keine Angst haben, wenn man da drin ist.“ Und als Florian Siebrecht dann noch das Blaulicht einschaltet, ist der Ersthelfer-Nachwuchs ohnehin ganz begeistert und fasziniert. Das Fazit von Monika Fritzsche: „Es waren zwei spannende Stunden und hat den Kindern Spaß gemacht.“ Erst recht, weil sie Mama und Papa beim Abholen mit Kunstblut und Kopfverband erschrecken können.

 

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