Spielen ohne Spielzeug: Der Kindergarten „Die kleinen Hände“ in Nordhessen packt sieben Wochen lang alle Spielsachen weg.
Drei Kinder schieben begeistert Spielzeugkisten durch die Kita.

Der Abschied von Teddy & Co. fällt leicht: „Juhu“, rufen die Kinder, flitzen umher – und räumen eifrig alle Spielsachen aus den Holzschränken. Bausteine, Babypuppen, Bilderbücher, alles landet in braunen Umzugskartons. Die Kinder schleppen gemeinsam mit ihren Erzieherinnen die Pappkisten auf den Dachboden. Dort lagern sie sieben Wochen lang gut verschlossen. So lange ist im evangelischen Kindergarten „Die kleinen Hände“ im nordhessischen Ringgau spielzeugfreie Zeit angesagt.

Nach zwei Tagen macht sich Langeweile breit. Die Kinder stehen vor leeren Regalen und wissen nichts mit sich anzufangen. Kein Neuland für die Pädagoginnen. „Wir wussten, was auf uns zukommt“, sagt Kita-Leiterin Carina van der Willik. „Unsere Aufgabe ist es, das auszuhalten.“ Das lohnt sich: Nach drei, vier Tagen platzt der Knoten. „Da kommt richtig was ins Rollen“, berichtet sie. Die Kinder werden kreativ. Aus Ästen bauen sie im Garten ein Tipi und rollen in Kartons den Hang hinunter. „Jeden Tag entstehen verrücktere Sachen.“ Für alle eine tolle Erfahrung.

Kurz
gesagt!

  • Genug Zeit für die Vorbereitung einplanen
  • Durchführung im Frühling oder Sommer, damit die Kinder viel draußen spielen können
  • Kinder einbeziehen, gemeinsam Abschied vom Spielzeug nehmen
  • Alltagsgegenstände wie Kastanien oder Klopapierrollen bereithalten

 

„Spielzeug im Überfluss“

Der Hintergrund ist ernster. Im Alltag können sich viele Kinder kaum noch mit sich selbst beschäftigen, so die Erfahrung der Kita-Leiterin. Sie hätten Spielzeug im Überfluss, bräuchten ständig Animation. „Einige sind gefühlt immer auf der Flucht“, sagt sie. Das Team ist überzeugt: Eine Pause tut gut. „Back to the roots“, nennt van der Willik die spielzeugfreie Zeit. Nur Alltagsgegenstände sind erlaubt. Dazu gehört der Pappkarton, den die Kinder im Nu zur Eisdiele umbauen genauso wie die Klopapierrollen, durch die jetzt Kastanien kullern. Alle bemerken, dass die Kinder viel mehr miteinander reden. Und noch etwas fällt auf: Sonst eher stille Kinder geben mit tollen Ideen den Ton an.

Die Aktion Jugendschutz der Landesarbeitsstelle Bayern e.V. unterstützt seit 25 Jahren Kindergärten dabei, ihr Spielzeug wegzupacken. Im Kindesalter sei für die Prävention die Förderung von Lebenskompetenzen am wichtigsten, betont Geschäftsführerin Elisabeth Seifert. Durch Projekte wie die spielzeugfreie Zeit seien die Kinder später weniger anfällig für Suchtkrankheiten. Außerdem werde deren Konflikt- und Kommunikationsfähigkeit gestärkt. Kinder bekämen Raum und Zeit, um sich selbst wahrzunehmen. Wichtig ist ihrer Meinung nach, dass sich die Kitas viel Zeit für die Vorbereitung nehmen und sowohl Eltern als auch Kinder gut einbinden. Seifert empfiehlt eine spielzeugfreie Zeit von mindestens drei Monaten. Ihre Erfahrung: „Alle brauchen Zeit, um sich darauf einzulassen.“ Für Erzieherinnen und Erzieher sei es eine Herausforderung, mit dem Rollenwechsel klarzukommen.

Alltagsgegenstände regen in der spielzeugfreien Zeit die Fantasie der Kinder an.

Rollenwechsel akzeptieren

Diese Erfahrung macht auch Claudia Biehl aus der Krippe in Ringgau. Als das Spielzeug weg ist, rennen und toben die Kleinen wild herum. Sie sei froh, dass sie sich im Team vorher so intensiv mit dem Konzept beschäftigt hätten. „Das gibt Sicherheit.“ Die Erzieherin nimmt sich zurück – und wartet ab, „ohne in Panik zu geraten“. Schnell legt sich die Unruhe. Die Kinder schieben einen leeren Geschirrwagen herum, entdecken im Garten kleine Käfer und Ameisen. „Sie sind viel offener für die kleinen Dinge“, erzählt Claudia Biehl, „weil sie nicht so abgelenkt sind.“

Als das Spielzeug nach sieben Wochen wieder ausgepackt wird, ist die Freude groß. Die Kleinsten stürzen sich auf die Knete, die Größeren stapeln sofort Bauklötze oder verkleiden sich als Prinzessin. Doch über die Hälfte der Spielsachen bleibt auf dem Dachboden. Es hat sich gezeigt, dass viele Puppen und Plastikautos niemand vermisst hat. Und für alle steht fest: „Das machen wir wieder!“

Nutzen für die pädagogische Arbeit

  • Kinder lernen, sich selbst besser wahrzunehmen
  • Sie kommen mehr ins Gespräch miteinander
  • Kinder werden selbst aktiv
  • Die Kreativität und Fantasie werden gefördert
  • Die Spielpartner wechseln öfter als sonst
  • Erfolgserlebnisse stärken das Selbstbewusstsein

 

WEITERE INFOS

Eine Einführung ins Thema bietet die Aktion Jugendschutz der Landesarbeitsstelle Bayern e.V. auf ihrer Homepage. Der gemeinnützige Verein erklärt die theoretischen Hintergründe und gibt praktische Tipps. Außerdem gibt es begleitende Materialien wie Film, Leitfaden, Frage- und Auswertungsbögen sowie Elterninfos.

Mehr unter: www.spielzeugfreierkindergarten.de

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