Auf Augenhöhe

In der Kita „Hanna Lucas“ in Wedel ist Partizipation mehr als ein Projekt – sie ist das Grundprinzip der pädagogischen Arbeit. Die Kinder entscheiden bei fast allen Dingen mit. Dabei lernen sie, Verantwortung zu übernehmen und Kompromisse zu suchen.
Ein kleiner Junge steht im Bad der Kita und putzt sich die Zähne.

Was sind Naschis? Bonbons und Lollis – klar. Aber zählen Chips zu den Süßigkeiten? Und was ist mit Cornflakes? Vier Monate haben die Kinder der Kita „Hanna Lucas“ in Wedel immer wieder über Naschis diskutiert.

Partizipation ist die zentrale Säule des pädagogischen Konzepts der Einrichtung in Schleswig- Holstein. 85 Kinder besuchen „Hanna Lucas“, 20 davon die Krippe. Die Einrichtung arbeitet nach dem offenen Ansatz.

Die Rechte der Kinder sind in einer Verfassung festgeschrieben. Es gibt verschiedene Gremien, in die die Kinder ihre Themen einbringen, diskutieren und schließlich entscheiden. „Wir wollen, dass die Kinder lernen, sich ein eigenes Bild zu machen“, sagt Kita-Leiterin Andrea Rump. Sie sollen quer denken, ihre eigene Meinung entwickeln und vertreten. „Sie lernen, andere Meinungen zu akzeptieren und trotzdem Freunde zu bleiben.“

 

KURZ GESAGT!

  • Die Rechte der Kinder sind in einer Verfassung verankert
  • Kinder können bei den meisten Dingen mitentscheiden
  • Sie lernen, eine eigene Meinung zu entwickeln und zu vertreten
  • Die pädagogischen Fachkräfte müssen Macht abgeben

 

Beschwerdeverfahren

Die Süßigkeiten wurden durch eine Beschwerde zum Thema. Immer wieder brachten Kinder Leckereien mit in die Kita, aßen sie alleine oder mit Freunden. Das sorgte bei anderen für Unmut. Damit war der Weg in die Kinderkonferenzen vorgezeichnet. Hier besprechen die Kinder in ihren Bezugsgruppen einmal wöchentlich aktuelle Themen.

In der Kita diskutieren die Kinder nicht nur, ihre Entscheidungen werden auch umgesetzt. Zum Thema Naschis: Vor dem Kita-Restaurant hängt jetzt eine Liste mit Bildern all jener Leckereien, die per Kinder-Beschluss unter diesen Begriff fallen. Süßigkeiten dürfen noch mitgebracht werden – müssen aber wahlweise mit allen oder innerhalb der Bezugsgruppen an einem festgelegten Tag geteilt werden.

Wofür werden die 10.000 Euro ausgegeben?

Auch bei großen Projekten werden die Entscheidungen basisdemokratisch gefällt. In der „Orangen Gruppe“ tagt jetzt die Kinderkonferenz. Heute geht es um 10.000 Euro, die „Hanna Lucas“ als Preisgeld gewonnen hat: Die Einrichtung belegte beim „Deutschen Kita-Preis“ 2018 den zweiten Platz. In den vergangenen Monaten wurden Ideen gesammelt, was mit dem Geld passieren könnte. Erzieherinnen und Erzieher, Eltern und Kinder haben Vorschläge eingebracht. Heute werden in den Gruppen alle Ideen noch einmal vorgestellt und besprochen. Nächste Woche wollen die Kinder abstimmen, was mit dem Geld passiert.

Demokratie ist toll. Und furchtbar anstrengend. Für die Kinder. Für die pädagogischen Fachkräfte. Seit zehn Minuten sitzen alle auf ihren Stühlen. Müssen zuhören, nachdenken, mitreden. Mats hat eben aus dem Kindergartenrat berichtet. In dieses Gremium werden gewählte Vertreter aus jeder Bezugsgruppe entsandt. Der Rat entscheidet über Themen, die alle Bezugsgruppen betreffen. Ein Erzieher wollte, dass von einem Teil der 10.000 Euro jetzt sofort eine neue Wasserpumpe gekauft wird. Mats verkündet: „Wir kaufen noch keine Pumpe.“ Vielleicht zu einem späteren Zeitpunkt.

Kompromisse aushandeln

Die Kinder werden in allen Belangen ernst genommen. Partizipation ist nicht ein Projekt innerhalb der Kita, sondern das Grundprinzip des Arbeitens. Hier sollen alle auf Augenhöhe agieren. Respektvoll miteinander umgehen. Kompromisse aushandeln. Es geht nicht darum, dass den Kindern alle Wünsche erfüllt werden. Sie müssen sich mit Fragen auseinandersetzen wie: Was ist machbar? Was ist für alle gut? Andrea Rump versteht Partizipation als gesellschaftlichen Auftrag. Es gibt nur ganz wenige Bereiche, in denen ohne die Kinder entschieden wird. „Sicherheit und Hygiene sind nicht verhandelbar.“

Viel Austausch mit den Eltern

Das Konzept der Kita hat sich über Jahre entwickelt. Gut kam es nicht überall an. In der Grundschule galten die „Hanna Lucas“-Kinder lange als „Revoluzzer“. Erst mit dem Wechsel der Schulleitung hat sich diese Haltung geändert. Auch mit den Eltern muss immer wieder viel gesprochen werden. Zum Beispiel: Ein Kind ist häufig erkältet, die Eltern wollen, dass es nur mit Mütze rausgeht. „Dann erklären wir den Eltern, dass wir einen anderen Weg gehen“, erklärt Andrea Rump. Mützen-Zwang gibt es nicht. Stattdessen sprechen die pädagogischen Fachkräfte das Kind immer wieder an, ob es draußen schwitzt oder friert. „Was können wir machen, damit dir nicht kalt ist“, könnte dann ein Erzieher zu dem Kind sagen.

Auch in Wedel gibt es Regeln, an die sich die Kinder halten müssen. Aber: In dieser Kita haben sie die Regeln mit aufgestellt. Wer im Außengelände der Krippenkinder wild tobt, muss den Bereich verlassen. Wer mit dem Puzzle spielt, muss es danach aufräumen, damit andere Kinder damit spielen können. „Wer sich nicht an die Regeln hält, kann sein Recht nicht in Anspruch nehmen“, sagt Andrea Rump. Aufgabe der Erzieherinnen und Erzieher sei es, auf die Kinder zuzugehen und zu fragen: Wie kann ich dir helfen, damit du die Regeln einhältst? „Erstaunlicherweise klappt das super.“

Auch schwierige Entscheidungen umsetzen

Nicht so gut klappt es bei der Einstellung neuer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. „Da geraten wir oft an unsere Grenzen“, sagt Andrea Rump. „Die Arbeit hier hat viel mit Machtabgabe zu tun.“ Die Erzieherinnen und Erzieher müssen sich und ihre eigenen Ideen für pädagogisch sinnvolle Lösungen sehr zurücknehmen. Das gelingt nicht jedem, viele entscheiden sich dann doch für die Arbeit in einer anderen Einrichtung. Gleichzeitig gibt es beim bestehenden Team wenig Fluktuation. Viele sind schon seit zehn, 15 oder 20 Jahren dabei.

„Die Arbeit hier hat viel mit Machtabgabe zu tun“, sagt Andrea Rump.

Partizipation bedeutet natürlich, dass auch schwierige Entscheidungen der Kinder umgesetzt werden. Vor einiger Zeit sollte ein neues Klettergerüst angeschafft werden. Die Kinder entwickelten Ideen, malten Entwürfe. Es gab eine ganze Reihe an Vorschlägen, aus denen die Kinder auswählen konnten. „Favorit war lange ein feuerspuckendes Dinosauriergerüst, das sich bewegen kann“, erzählt Andrea Rump. Damals machte sich die Kita-Leiterin Sorgen, wie das realisierbar wäre. Die Kinder stimmten am Ende ganz konservativ ab. Das Klettergerüst, das heute im Außenbereich steht, ist fast langweilig normal.

Lange wollten die Kinder ein feuerspuckendes Dinosauriergerüst, das sich bewegen kann. Dann haben sie sich für dieses Klettergerüst entschieden.

 

WEITERE INFORMATIONEN

Broschüre „Qualitätsstandards für Beteiligung von Kindern und Jugendlichen“ des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend unter:

www.bmfsfj.de > Service > Publikationen > Suchbegriff: Beteiligung von Kindern

Ratgeber „Partizipation von Kleinkindern“ des Kommunalverbands für Jugend und Soziales Baden-Württemberg unter:

www.kvjs.de > Suchbegriff: Partizipation von Kleinkindern

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