Das Elefanten-Problem

Nicht bewerten, gut zuhören und die Kinder stark machen: Durch ein positives Miteinander schafft der Evangelische Kindergarten in Hülben in Baden­Württemberg die Grundlage für eine gute Fehlerkultur.
Ein Junge klebt einen zuvor aus einem Bilderbuch geschnittenen Elefanten wieder in das Buch.

Nur einen kurzen Moment. So lange ist die Erzieherin Petra Schmauder mit ihrer Aufmerksamkeit erst bei dem wild tobenden Mädchen und dann bei dem Jungen, der stolz sein Bauwerk erklärt. Dieses Zeitfenster reicht Marius (Name geändert), um das Elefanten­-Problem zu lösen.

Eigentlich wollte der Dreijährige das graue Tier malen – mit Hilfe des „Zeichenschule“­ Buchs. Weil das nicht gelang, hat er das Tier sorgsam ausgeschnitten. Und sich dann fix aufs Außen­gelände der Kita verabschiedet. Jetzt klafft ein Loch in der Buchseite.

 

KURZ GESAGT!

  • Kinder dürfen sich angstfrei ausprobieren
  • Bewusst mit der Sprache umgehen
  • Statt Kritik: Fokus auf Stärken
  • Lösung für schwierige Situationen im Rollenspiel suchen

 

Aus Erfahrungen lernen

Kinder und ihr Verhalten nicht negativ zu be­werten – darauf legen die pädagogischen Fach­kräfte dieser Kita großen Wert. 122 Kinder besu­chen die Einrichtung, 21 Erzieherinnen arbeiten hier. „Die Kinder müssen etwas falsch machen dürfen, um es richtig machen zu können“, sagt Petra Schmauder. Dabei ist das Verhalten der pä­dagogischen Fachkräfte von großer Bedeutung: Sie können die Kinder so unterstützen, dass sie durch Fehler nicht entmutigt werden. Die Kinder dürfen sich hier angstfrei ausprobieren und aus ihren Erfahrungen lernen und stark werden.

Die Erzieherin wird deshalb später zu Marius sa­gen: „Ich finde es schön, dass du dir beim Aus­schneiden so große Mühe gegeben hast.“ Dann blättert sie gemeinsam mit dem Jungen das Buch durch, lenkt seine Aufmerksamkeit auf die Lücke. Was tun, damit der Elefant wieder abge­malt werden kann? Gemeinsam suchen sie eine Lösung – und kleben den Elefanten wieder ein.

Die Kinder dürfen sich angstfrei ausprobieren und aus ihren Erfahrungen lernen.

Die Kinder ernst nehmen

Die positive und achtsame Grundhaltung zu den Kindern und die damit verbundene wertschät­zende Kommunikation haben im Evangelischen Kindergarten Hülben einen so hohen Stellen­wert, dass sie im pädagogischen Konzept fest­geschrieben sind. Sie waren Thema von päda­gogischen Tagen, die Erzieherinnen besuchen entsprechende Fortbildungen, außerdem gibt es einen Elternabend zum Thema „Positiv spre­chen mit Kindern“.

Anstatt zu bewerten, wird hier viel zugehört. Wenn ein Kind das andere schlägt, fragen die Erzieherinnen nach den Gefühlen, die dahinter stehen. Wie ging es dir? Was glaubst du, wie es dem anderen Kind ging? Was können wir tun, um das zu ändern? Kita­-Leiterin Marion Lüer ist überzeugt: „Nur wenn ein Kind ernst genommen und beteiligt wird, setzt sich ein positiver Lern­prozess in Gang.“ Deshalb wird gemeinsam mit den Kindern nach Lösungen gesucht. Die Kinder lernen, dass sie etwas bewirken können und werden gestärkt.

Mit Sprache gehen die Erzieherinnen sehr bewusst um. „Man visualisiert das, was gesagt wird – auch wenn ein ,nicht‘ eingefügt ist“, sagt Marion Lüer und führt ein Beispiel an: „Welches Bild entsteht, wenn ich sage: Denken Sie nicht an einen rosa Elefanten!“ Entsprechend gelte für Kinder: Auch wenn etwas negativ formuliert wird, visualisieren sie das beschriebene Bild.

Deshalb versuchen die Erzieherinnen den Kindern zu sagen, was sie wollen – und nicht, was sie nicht wollen. Statt „So fällst du gleich runter!“, „Wirf nicht mit den Bausteinen!“ oder „Renn nicht auf die Straße!“ wird gesagt „Halt dich fest!“, „Leg die Bausteine hin!“ oder „Bleib stehen!“. Klare Ansagen in kritischen Situati­onen sind problemlos möglich. Aber eben im Positiven formuliert.

Anstatt das Verhalten von Kindern zu bewerten, wird hier viel zugehört.

Rollenspiel in Teamsitzungen

Schwieriger sind andere Situationen. Die Kita­ Leiterin erzählt von einem Jungen, der ständig zum Petzen kommt – manchmal alle paar Minuten. Das kostet die Erziehrinnen viel Energie und Nerven. Solche Situationen werden dann zum Thema in Dienstbesprechungen.

Hier hinterfragen die pädagogischen Fachkräfte: Was macht das Verhalten des Jungen mit uns? Was steckt hinter seinem Verhalten? In Rollen­ spielen werden Situationen nachgestellt und Lösungen für alle Beteiligten gesucht. Vielleicht hat er einen besonderen Gerechtigkeitssinn? Anstatt „Du sollst nicht ständig petzen“ sagen die Erzieherinnen im Rollenspiel: „Ich habe alles im Griff. Komm, wir setzen uns zusammen hin und schauen zu, was passiert, wenn wir nicht eingreifen.“

Das kostet Zeit und gelingt im Kitaalltag nicht im­mer. „Wir sind alle nicht perfekt – das Scheitern passiert täglich“, sagt Marion Lüer. Natürlich kommt es vor, dass eine Erzieherin unfreundlich oder laut wird. „Oft steckt Überforderung dahin­ter.“ Aber auch dann gibt es immer die Möglich­keit, einen zweiten Anlauf zu nehmen, einen zweiten Satz zu den Kindern zu sagen.

Und statt ihren Mitarbeiterinnen Vorwürfe zu machen, setzt die Leiterin dann auf eine Aus­zeit für die Betroffene, manchmal im Dienst­zimmer mit einer Tasse Tee. Ein wertschätzen­des Miteinander – der Anspruch gilt auch für den Umgang der Leiterin mit den Erzieherinnen und innerhalb des Teams. „Die Arbeit im Team macht mehr Spaß, wenn jeder weiß, dass man Fehler machen darf“, sagt Marion Lüer. Hier sieht sie sich als Leitungskraft ganz wesentlich in der Verantwortung. „Wenn es den Erzieherin­nen gut geht, geht es auch den Kindern gut.“

 

MERKMALE EINER OFFENEN FEHLERKULTUR

Wer Fehler offen anspricht, trägt viel zu Sicherheit und Gesundheit bei. In einer offenen Fehlerkultur werden Fehler nicht verheimlicht, sondern als Entwicklungs­- und Lernchancen für alle verstanden. So kann eine Kita sicherer und gesünder gestaltet werden. Merkmale einer offenen Fehlerkultur:

  • Führungskräfte, Beschäftigte, Kinder und Eltern gehen gleichermaßen offen mit Fehlern um.
  • Eine konstruktive Fehlerkultur ist in das pädagogische Leitbild der Kita aufgenommen.
  • Fehler und Risiken, die sich daraus ergeben, werden transparent gemacht und analysiert. Daraus werden Maßnahmen abgeleitet und umgesetzt.
  • Beinahe-­Unfälle werden erfasst und ausgewertet. Präventionsmaßnahmen werden abgeleitet und umgesetzt.
  • Kontinuierliche Verbesserungssysteme und ­-prozesse sind eingeführt und werden umgesetzt.
  • Gespräche werden ohne Schuldzuweisung und konstruktiv durchgeführt.

Mehr zum Thema Fehlerkultur enthält die
kommmitmensch-Kampagne der DGUV: www.kommmitmensch.de

 

 

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