Traumatisierten Erwachsenen kann es genügen, sich ihren Rückzugsort vorzustellen. Man spricht dann vom inneren oder imaginierten sicheren Ort. „Kinder benötigen aber einen realen sicheren Ort“, sagt die Kinder- und Jugendpsychotherapeutin Monika Dreiner. „Sie müssen sich in den Räumlichkeiten und bei den Personen, mit denen sie zu tun haben, sicher und gut aufgehoben fühlen.“ Die Grundlagen sind in der Kita ohnehin gegeben: Die Räume sollten so gestaltet sein, dass die Gefahr von Unfällen und körperlichen Verletzungen gering ist. Und die pädagogischen Fachkräfte müssen so auftreten, dass die Kinder keine Angst vor Gewalt oder Grenzverletzungen sowie vor Bestrafungen oder Sanktionen für ihr Verhalten haben müssen.
KURZ GESAGT!
_Traumatisierte Kinder befinden sich im Überlebensmodus
_Fachkräfte holen sie in eine sichere Wirklichkeit zurück
_Kita bietet einen Rahmen, in dem sich das Kind alterstypisch entfalten kann
In der Kita geht es nicht um Therapie, sondern vor allem darum, Verständnis für das Verhalten der Kinder aufzubringen. „Die Kita kann einen Rahmen schaffen und eine Haltung zeigen, die es den Kindern leicht macht, sich so zu zeigen, wie sie sind“, sagt die Expertin. Und nach einem traumatischen Erlebnis würden sie sich eben im Überlebensmodus befinden, was sich unter anderem im Spiel niederschlagen könne. Haben Kinder beispielsweise einen Autounfall erlebt, spielen sie immer wieder mit Autos Zusammenstöße nach. Kinder, die aus Kriegsgebieten geflohen sind, spielen Verstecken. Scheinbar. „In Wirklichkeit suchen sie Schutz“, erläutert die Therapeutin.
„Nicht alle Kinder, die geflüchtet sind, sind auch traumatisiert“, stellt Monika Dreiner aber klar. Das sei erst der Fall, wenn die eigenen Bewältigungsstrategien nicht ausreichte und auch niemand als „Retter“ zur Seite gestanden habe. „Wenn die Mama, Oma oder eine andere vertraute Bezugsperson bei der Flucht dabei war, kann es durchaus sein, dass die Kinder zwar extrem belastet und erschöpft sind, aber nicht traumatisiert.“
Arten von Traumatisierungen
Unterschieden wird zwischen einmaligen und komplexen Traumatisierungen. Einmalige Traumatisierungen können etwa der Tod von Eltern, Geschwistern, des Haustiers oder ein schwerer Verkehrsunfall sein. Komplexe Traumatisierungen können durch wiederholte oder andauernde Grenzverletzungen entstehen, zum Beispiel bei (sexuellem) Missbrauch oder auch, wenn beim Toilettengang wiederkehrend die Intimsphäre der Kinder gestört wird. Die Flucht aus Kriegs oder Krisengebieten fällt ebenfalls in diese Kategorie.
Wenn es um Leben und Tod geht
Ist ein Kind traumatisiert, kann es in eine „getriggerte Verfassung“ geraten. Das bedeutet, dass es durch einen inneren oder äußeren Reiz an die traumatisierende Situation erinnert wird – auch deshalb sollten die Kitafachkräfte nicht von sich aus nach den Erlebnissen fragen (siehe Interview mit Thomas Weber). „Wenn dieser Reiz wirkt, wechselt das Kind von jetzt auf gleich in eine andere Verfassung und ist nicht mehr in der Lage, sein Verhalten zu ändern oder zu kontrollieren“, erklärt Monika Dreiner. Vielleicht werfe es Sachen durch die Gegend, schreie, beiße oder spucke. Die Fachkräfte müssten sich vor Augen führen, dass es im Erleben des Kindes um Leben und Tode gehe, es könne in dem Moment nicht anders handeln. „Ein Merkmal von Traumatisierungen ist, dass man sich nicht im Hier und Jetzt befindet, sondern im Dort und Damals“, sagt Monika Dreiner.
Das Kind bräuchte dann jemanden, der es auffängt und begleitet, statt es auszuschimpfen oder anderweitig zu sanktionieren. Die Aufgabe der Erzieherinnen und Erzieher sei es, das Kind aus dem Traumazustand in die aktuelle Wirklichkeit zurückzuholen. „Dafür muss ich kein Therapeut sein, das kann ich auch mit pädagogischen Mitteln erreichen.“ Beispielsweise könne das funktionieren, indem man dem Kind klarmache, dass es an einem sicheren Ort sei: „Du bist in der Kita. Hier ist alles gut. Komm, wir gucken mal, was wir hier so alles haben.“
Wichtig sei es, den Kindern in der Kita das Gefühl zu vermitteln, dazuzugehören und mit anderen gemeinsam etwas machen oder unternehmen zu können. „Einen Rahmen schaffen, in dem sich das Kind alterstypisch entfalten kann“, sagt Monika Dreiner, denn: „In dem Moment, in dem das Trauma passiert, erstarren die Kinder. Sie unterbrechen nicht nur ihre Handlung in der Situation, sondern sie blockieren zu einem großen Teil ihre Entwicklung.“ Ziel müsse es also sein, die Entwicklung wieder in Gang zu bringen.
Die Fachkräfte müssen im Umgang mit traumatisierten Kindern aber auch auf sich selbst achten. Nicht umsonst gelten Traumata als „ansteckend“. Gelingt es nicht mehr, die eigenen Gefühle und die zum Kind gehörenden Gefühle voneinander zu trennen, „laufen sie Gefahr, dass sie selbst sekundär traumatisiert werden, obwohl sie die Situation gar nicht erlebt haben“, führt Monika Dreiner aus. Die Symptome könnten dann ganz ähnlich sein wie bei den traumatisierten Kindern, also zum Beispiel Schlaflosigkeit, Reizbarkeit, Aufmerksamkeitsprobleme oder schreckhafte Nervosität. Der Austausch im Team sei als vorbeugende Maßnahme wichtig. Darüber hinaus rät die Expertin zu einer Supervision: „Damit jemand Externes, der nicht im Geschehen involviert ist, aus einer anderen Perspektive helfen kann, das Ganze zu sortieren.“
Denn letztlich können die Erzieherinnen und Erzieher nur dann dafür sorgen, dass die Kinder sich in der Kita wohl und geborgen fühlen, wenn sie die Atmosphäre dort selbst so empfinden, fasst Monika Dreiner zusammen. Ansonsten würden die Kinder das spüren und dadurch verunsichert. Deshalb gilt: „Der sichere Ort ist nie nur der sichere Ort der Kinder, sondern der aller Beteiligten.“
Lesetipp
Monika Dreiner: „Trauma bei Kindern und Jugendlichen“, 2018, herausgegeben vom Zentrum für Trauma und Konfliktmanagement (ZTK) in Köln