Ängste offen benennen und gemeinsam Lösungen suchen – das ist das Rezept für Inklusion im Kinderhaus Pusteblume. „Kinder mit Behinderung sind eine Bereicherung“, sagt Kita-Leiterin Margot Koblitz.
Lia sitzt an einem Tisch im Spielraum der Kita Pusteblume in Windesheim und malt. Sie ist mit einem Genfehler geboren und hat einen höheren medizinischen Unterstützungsbedarf.

Lia ist eine Kämpferin. Und blitzgescheit. Da sind sich Erzieherinnen, Eltern und Integrationskraft einig. Gerade jetzt ist das fünf-jährige Mädchen gemeinsam mit den anderen Wackelzähnen unterwegs zum Bach. Die Vorschulgruppe der Kita Pusteblume nutzt den sonnigen Tag für einen Abstecher ans Wasser. Paarweise folgen die Kinder dem Feldweg, als Lia ihren Partner fragt: „David, können wir mal langsam machen?“ Dem Mädchen steckt der Ausflug vom Vortag noch in den Gliedern, das linke Bein schmerzt. Kein Thema für David. Die letzten der Gruppe sind sie noch lange nicht – ganz hinten widmen sich zwei Kinder intensiv den Kieseln auf dem Weg und fallen immer weiter zurück.

 

KURZ GESAGT!

  • Inklusive Kitas als Gewinn für alle
  • Offen über Ängste, Unklarheiten und Chancen im Team diskutieren
  • Externe Hilfe holen, Netzwerke aufbauen
  • Team, Eltern und Träger müssen an einem Strang ziehen

 

Inklusives Angebot

Seit zwei Jahren besucht Lia das Kinderhaus Pusteblume. Das ist nicht selbstverständlich. Lia ist mit einem seltenen Genfehler auf die Welt gekommen. Sie kann nicht schlucken. Deshalb erhält sie Essen und Trinken über eine Sonde im Bauch. Weil Hüfte und Knie nicht richtig ausgebildet sind, trägt Lia außerdem Orthesen. Diese medizinischen Hilfsmittel stabilisieren ihre Hüfte und Beine. Doch weiter als 500 Meter am Stück zu laufen, strengt das Mädchen an.

„Wir hatten große Angst“, erzählt die Kita-Leiterin Margot Koblitz von der Zeit, kurz vor Lias Start in der Kita. Denn nicht schlucken können bedeutet auch: Möglicherweise läuft Speichel in die Lunge und Lia bekommt keine Luft mehr. Das Mädchen könnte in der Kita sterben – das stand für die pädagogischen Fachkräfte im Raum.

Das Kinderhaus Pusteblume steht in Windesheim, einem kleinen Dorf mit 2.000 Einwohnern in Rheinland-Pfalz. Für Margot Koblitz war immer klar, dass die Einrichtung jedes Kind aus dem Ort aufnimmt. „Wir verstehen unsere Kita als inklusives Angebot.“ Das ist auch entsprechend im Konzept der Einrichtung verankert. 2016 kam die Anfrage von gleich drei Familien, die ein Kind mit einer Behinderung haben. Bei allen drei gab es erhöhten und medizinischen Unterstützungsbedarf durch die Erzieherinnen. Eines der Kinder ist Lia.

 

Alle einbeziehen

Margot Koblitz arbeitet seit über 40 Jahren in der Kita. Sie hat viel Erfahrung – auch damit, was man falsch machen kann. Sie erinnert sich gut an das erste Kind mit Behinderung in der Einrichtung. Wie sie sich damals entschied, es aufzunehmen. Und dass sie versäumte, das Team mitzunehmen. „Das gab viele Probleme.“

Für die Kita-Leitung war deshalb klar: Alle müssen einbezogen werden und an einem Strang ziehen. Das Team, die Eltern und der Träger. An zwei pädagogischen Tagen diskutierte das Team offen über Ängste, Unklarheiten, aber auch über Chancen. Nur wenn ohne Tabus über alles gesprochen wird, können Probleme ausgeräumt werden, so die Überzeugung von Margot Koblitz. Tina Krämer, heute Lias Bezugserzieherin bei den Wackelzähnen, erinnert sich: „Ich habe mich nicht getraut, Lia über die Magensonde Wasser zu geben.“ Nur zwei Erzieherinnen aus dem Team trauten sich das damals zu. Damit war klar: Nur diese beiden versorgen das Mädchen am Vormittag mit der erforderlichen Flüssigkeit. Niemand sollte überfordert werden. Für die Nahrung wurde eine andere Lösung gesucht. Lia besucht die Kita nur von 8 bis 12 Uhr, zum Mittagessen wird sie abgeholt.

Im Austausch: Lias Mutter Carina Seibold bespricht sich mit der Leiterin Margot Koblitz.

Notfallplan erarbeiten

Bei den pädagogischen Tagen waren auch der Träger, eine Supervisorin und Lias Mutter Carina Seibold dabei. Der Träger stand voll hinter der Inklusion. Für die Kita-Leitung war aber auch zentral, dass Eltern und pädagogische Fachkräfte offen zueinander sind – einander vertrauen. „Es kann passieren, dass Lia blau anläuft“, erklärte Carina Seibold den Erzieherinnen. Gemeinsam wurde ein Notfallplan für diesen Fall erarbeitet. Darin ist zum Beispiel festgehalten, dass zuerst der Notarzt und dann die Mutter informiert wird. Außerdem hat die Kita sich externe Hilfe gesucht. „Man braucht Menschen, die einen unterstützen“, sagt Margot Koblitz. Einer ihrer ersten Anrufe galt Stefanie Kuhn von der Unfallkasse Rheinland-Pfalz. „Ich habe versucht, Frau Koblitz die Angst zu nehmen“, erinnert sich Stefanie Kuhn an das Telefonat und erklärt: „Wenn etwas passiert, ist das Kind bei uns versichert.“ Die Aufsichtsperson empfahl außerdem, die Gefährdungsbeurteilungen anzupassen.

Jugendamt und Ärzte wurden einbezogen. „Im Umgang mit den Behörden braucht man ein dickes Fell und einen langen Atem“, sagt Margot Koblitz. Zu Lias Unterstützung in der Kita wurde eine Inklusionskraft genehmigt – damals mit 20 Stunden pro Woche. Außerdem tauschte sich die Leitung mit anderen Kitas über deren Erfahrungen mit Inklusion aus. Das gesamte Team besuchte extra einen zusätzlichen Erste-Hilfe-Kurs. Und vier Wochen vor Lias Eingewöhnung kurzfristig einen weiteren. „Wir haben kalte Füße bekommen. Deshalb haben wir an Puppen nochmal die Wiederbelebung geübt“, erinnert sich Margot Koblitz. Ängste ansprechen und gemeinsam Lösungen suchen – das zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichte der Inklusion in dieser Kita.

Die anderen Kinder haben sich anfangs für Lias Besonderheiten interessiert. Mit Lias Einverständnis durften sie zuschauen, wie ihr Wasser in die Sonde gespritzt wird. Heute ist das für alle Normalität – auch für Bezugserzieherin Tina Krämer. Im Morgenkreis hat Lia den anderen Kindern ihre Orthesen, die normalerweise unter ihrer Hose verborgen sind, gezeigt und ihre Funktion erklärt. Die anderen Kinder wissen, dass Lia leichter umfällt. „Die Kinder sind sehr empathisch. Sie gehen aufmerksam miteinander um“, sagt Tina Krämer. Ständige Rücksichtnahme wird von ihnen aber nicht gefordert. Als zwei Wackelzähne einen Spaßkampf auf dem Boden starten, geht Lia einfach zur Seite.

Lia kann nicht schlucken und erhält Essen und Trinken über eine Sonde im Bauch.

Mut machen

Mit der Inklusion hat sich vor allem für die Erzieherinnen viel verändert. „Ich bin offener geworden“, sagt Tina Krämer. „Es macht einen stark, wenn man seine Ängste überwindet.“ Die pädagogischen Fachkräfte sprechen viel miteinander, die Herausforderung hat das Team zusammengeschweißt. „Wir haben alle zusammen viel gewonnen. Kinder mit Beeinträchtigung sind eine Bereicherung“, sagt Margot Koblitz. Sie möchte anderen Einrichtungen Mut machen, Inklusion zu wagen.

Und Lia? Die steht lachend auf einer Brücke und lässt Papierboote zu David in den Bach fallen. Der fischt sie eifrig aus dem Wasser. Lia gehört dazu. Sie ist ein Wackelzahn, wie alle anderen.

 

MATERIALIEN

  • „Inklusion in Kindertageseinrichtungen“; DGUV Information
    202- 099, Download und Bestellung unter: publikationen.dguv.de
  • „Medikamentengabe in Kindertageseinrichtungen“; DGUV Information 202-092, Download und Bestellung unter: publikationen.dguv.de
  • „Kinder mit chronischen Erkrankungen und gesundheitlichen Problemen“, Information der UK RLP; Download unter:
    ukrlp.de; Webcode: b475

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