Was sind exekutive Funktionen?
Man kann sie sich wie den Steuermann auf einem Schiff vorstellen. Der Motor sind die Motivationen und unsere Ziele, die wir verfolgen und erreichen möchten. Wenn plötzlich ein Hindernis auftaucht, das wir umschiffen müssen, etwas, das neu ist – dann kommen die exekutiven Funktionen ins Spiel. Sie helfen uns, unsere Handlungen zu planen, die Ausführung zu überwachen und mögliche Fehler zu erkennen. Oder, um im Bild zu bleiben: zu überprüfen, ob wir noch auf dem richtigen Kurs sind, und diesen gegebenenfalls zu korrigieren. Das gilt für die Gestaltung unseres Alltags genauso wie für das soziale Miteinander. Es geht also um Handlungssteuerung, Selbstregulation und Emotionsregulation gerade auch in komplexen Situationen.
Das hört sich in der Tat komplex an. Heißt das, exekutive Funktionen müssen erst trainiert werden?
Es ist nicht nur eine Sache des Trainings, sondern vor allem auch der Gehirnreifung. Die exekutiven Funktionen sind in einer Hirnregion angesiedelt, die präfrontaler Cortex heißt. Der ist erst mit etwa 24 Jahren vollständig entwickelt. In den ersten drei Lebensjahren zeigen sich exekutive Funktionen nur punktuell. Besonders wenn Kinder gut ausgeruht und entspannt sind, können wir erste Ansätze beobachten. Ab dem dritten Lebensjahr machen Kinder einen deutlichen Entwicklungsschub. Je jünger das Kind, desto weniger greifen diese Regulationsmechanismen allerdings – und gar nichts geht mehr, wenn es müde, hungrig oder unsicher ist.
Können sich Kinder auch anders selbst regulieren?
Ja natürlich. Sie verfügen über Regulationsmechanismen, die unabhängig von exekutiven Funktionen arbeiten, zum Beispiel am Schnuller nuckeln, sich hin- und herwiegen, die Arme um den Körper legen. Diese Mechanismen basieren auf angeborenen Verhaltensweisen und Erfahrungen, die den Kindern guttun. Im Kita-Alter entwickeln sich dann nach und nach die exekutiven Funktionen und übernehmen zunehmend eine zentrale Rolle. Das ist besonders wichtig, da wir ohne diese Fähigkeiten in unserer komplexen sozialen, materiellen und digitalen Welt kaum zurechtkämen.
Wie wichtig ist es für Kinder, herausfordernde Situationen zu erleben, um Strategien im Umgang mit Risiken zu entwickeln?
Es ist entscheidend, dass Kinder in einer strukturierten, vorhersehbaren Umgebung eigene Erfahrungen sammeln können. Dabei brauchen sie Begleitung, bis sie sicher im Umgang mit solchen Situationen sind. Ein wichtiger Schritt ist, das Kind aktiv einzubeziehen: Es sollte die Gelegenheit bekommen, die Situation selbst zu beschreiben und mögliche Lösungen zu überlegen. Gemeinsam kann man dann über diese Lösungen sprechen. Wichtig ist, das Kind nicht übermäßig zu beschützen, sodass es sich um nichts kümmern muss – denn ohne eigene Auseinandersetzung gibt es auch keinen nachhaltigen Lernerfolg und Kinder können nicht angemessen auf Risiken reagieren.
Was haben die exekutiven Funktionen nun mit Risikowahrnehmung und Risikoeinschätzung zu tun?
Dazu muss ich ein wenig ausholen. Exekutive Funktionen bestehen im Wesentlichen aus drei Unterbereichen: dem Arbeitsgedächtnis, der Impulskontrolle und der kognitiven Flexibilität.
Das Arbeitsgedächtnis ist vereinfacht gesagt das, woran ich gerade denke. Für eine Risikoeinschätzung muss ich aus dem Langzeitgedächtnis eine Bewertung einer vergleichbaren Situation abrufen können, die ich bereits einmal erlebt habe. Kleine Kinder haben noch keine oder nur wenige Erfahrungen gemacht, sie orientieren sich deshalb am Umfeld: Wie reagieren Eltern, Geschwister, Erzieherinnen? Zeigen diese ein erschrockenes Gesicht, signalisiert das Vorsicht; ermutigendes Verhalten deutet hingegen auf Sicherheit hin.
Dann gibt es die Impulskontrolle. Sie hilft, impulsives Verhalten zu hemmen und überlegtes Handeln zu ermöglichen. Beispielsweise bleibt ein Kind in einer potenziell gefährlichen Situation stehen und überlegt, wie es sicher reagieren kann.
Die kognitive Flexibilität entwickelt sich vor allem im Grundschulalter. Sie ermöglicht es, flexibel auf neue Situationen zu reagieren und alternative Lösungen zu finden. Zum Beispiel: Ein Kind möchte eine Straße überqueren, bemerkt jedoch herannahende Autos. Es stoppt – Impulskontrolle –, überdenkt die Situation – Arbeitsgedächtnis – und entscheidet, einen Zebrastreifen zu nutzen oder einen Umweg zu machen – kognitive Flexibilität.
Kitakinder haben diese Fähigkeit noch nicht vollständig entwickelt. Sie können die Gefahr erkennen und stoppen, sind jedoch häufig nicht in der Lage, eine sinnvolle Lösung zu finden. Sie bleiben zwar an einer Straße stehen, aber wissen nicht, was dann zu tun ist, um sicher hinüberzukommen.
Dann brauchen jüngere Kinder jemanden, der ihnen eine mögliche Lösung aufzeigt und erklärt?
Richtig, aber bei Drei- oder Vierjährigen hilft es nicht, wenn man ihnen zum Beispiel einmal zeigt, dass man über die Ampel oder den Zebrastreifen gehen kann. Das funktioniert dann im besten Fall, falls sich das Kind die Information überhaupt merken kann, an dieser Straße in einer identischen Situation. Das muss trainiert werden, sie können es aufgrund der Hirnreifung aber erst ab einem bestimmten Alter lernen. Dazu muss man ihnen auch die Gelegenheit geben.
Was ist in diesem Zusammenhang noch wichtig?
Das Wichtigste ist eine vorhersehbare und strukturierte Umgebung. Dazu gehören klare Regeln und Abläufe, die konsistent gelten – sowohl in der Kita als auch zu Hause. Kinder fordern das auch ein, sie lieben Rituale. Nur in solch einem stabilen Rahmen können Kinder lernen, ihre Handlungen an die Erwartungen und Gegebenheiten anzupassen. Wenn sie in diesem Setting erfolgreich handeln, verfestigen sich ihre Erfahrungen, und neue Verbindungen im exekutiven System werden gebildet. Dadurch reifen die exekutiven Funktionen weiter.
Im Gegensatz dazu behindert eine unvorhersehbare Umgebung – in der heute andere Regeln gelten als morgen – die Entwicklung. Kinder können in einem chaotischen Umfeld schwer einschätzen, welche Handlung passend ist, und so bleibt ein Lernerfolg aus.
Was brauchen Kinder, um exekutive Funktionen gut zu entwickeln?
Die Förderung exekutiver Funktionen bei Kindern ist auf verschiedenen Ebenen möglich. Besonders effektiv ist es, wenn Kinder selbst aktiv werden müssen: Sei es, dass sie eine Handlungsplanung vornehmen und ihre Handlungen anpassen, Sei es, dass sie auf unerwartete Veränderungen, etwa im Spielverlauf, reagieren. Gut geeignet sind alle Bewegungsspiele mit einem klaren, für das Kind verständlichen Regelwerk, und solche, die zugleich schnelle Anpassungsfähigkeit verlangen, wenn Mitspieler unerwartet handeln. Das Paradebeispiel wäre etwa Fußball.
Das heißt, vor allem bei Sport- und Bewegungsspielen gelingt das?
Nicht nur. Auch Tischspiele, künstlerische oder handwerkliche Aktivitäten eignen sich hervorragend, um exekutive Funktionen zu fördern. Solche Tätigkeiten erfordern Anpassungsfähigkeit, wenn etwas nicht auf Anhieb gelingt. Beispielsweise muss ein Kind neu ansetzen, wenn ein Bastelprojekt mit der Schere misslingt. Auch Regelspiele im sozialen Kontext bieten wertvolle Möglichkeiten, exekutive Funktionen spielerisch zu stärken.
Zusammengefasst heißt das also: Exekutive Funktionen der Kinder werden am besten gefördert in einer anregenden Umgebung, die viel Bewegung ermöglicht, wenige klare Regeln enthält und durch Rituale unterstützt wird.
Ja, das trifft es ganz gut. Ein oft übersehener Aspekt ist jedoch, dass sich exekutive Funktionen erschöpfen können – bei Kindern ebenso wie bei Erwachsenen. Intensive geistige Anforderungen machen müde, und Pausen sind unerlässlich. Deshalb ist es wichtig, den Kindern auch Ruhephasen zu ermöglichen. Eine Überforderung durch ständige Anforderungen kann dazu führen, dass die Kinder nicht mehr in der Lage sind, selbst einfache Situationen zu bewältigen.
Ruhezonen, Achtsamkeitsübungen oder einfach Rückzugsmöglichkeiten sind daher ein wichtiger Beitrag zur Förderung. Ob ein Kind Yoga macht, leise Musik hört, einen Ruheraum nutzt oder sich einfach für eine Weile unter einen Tisch zurückzieht, um zu beobachten – all das hilft, das Gleichgewicht wiederherzustellen. Kinder haben ein gutes Gespür dafür, wann sie eine Pause brauchen, und sollten darin unterstützt werden, diese auch wahrzunehmen.
Was brauchen Kinder noch, um sich in dieser komplexen Welt sicher und gut zurechtzufinden?
Es ist sehr wichtig, wie wir mit den Kindern interagieren und mit ihnen sprechen. Wir sollten ein Bewusstsein dafür schaffen und mit den Kindern teilen, welche Pläne wir haben. Wenn etwas nicht funktioniert, sollten wir sie ermutigen, das Problem zu beschreiben und gemeinsam nach Lösungen zu suchen, anstatt – wie es Erwachsene oft tun – einfach eine Lösung vorzugeben oder das Problem für das Kind zu lösen. Das ist eine Gewohnheit, die wir uns abgewöhnen sollten. Zwar geht es schneller, aber die Kinder lernen dadurch nicht, ihre Handlungen selbst zu steuern, Probleme eigenständig zu lösen und sich anzupassen. Das gleiche gilt im Übrigen für Konfliktsituationen. Gemeinsam spielen ist ein fantastisches Übungsfeld – Rücksicht nehmen, sich selbst und andere im Blick haben, flexibel auf das Verhalten anderer reagieren, Verhaltensweise unterdrücken, die das Spiel stören oder Konflikte hervorrufen könnten. Deshalb: Kinder brauchen ausreichend Zeit, um miteinander zu spielen – wohlgemerkt, miteinander – und keinen von außen vorgegebenen, durchgetakteten Tag.

Die Neurobiologin Dr. Petra Arndt forscht am ZNL TransferZen-trum für Neurowissen-schaften und Lernen in Ulm u. a. zu Förderung xekutiver Funktionen und Selbstregulation als Grund-lage für sozial-emotio nale und kognitive Entwicklung von Kindern und Jugendlichen. Mehr: wp.znl-ulm.de