KURZ GESAGT!
_Zuschreibungen an die Kinder vermeiden, Ressourcen fördern
_Unterstützung durch das Team oder Fachberatungen suchen
_Sensibel die Eltern ins Boot holen
Heute läuft es richtig gut mit Juri. Bislang. Später wird er draußen mit Sand nach anderen Kindern werfen, seinen Freund Oskar so fest umarmen, dass dieser vor Schmerz zu weinen beginnt, und wütend ein Brettspiel vom Tisch fegen, weil er zu verlieren droht.
„Juri ist eigentlich ein toller Junge, ein echter Sonnenschein, der sich für alles interessiert und viele gute Ideen hat. Aber es ist oft sehr, sehr anstrengend mit ihm“, meint Erzieherin Alessia. An manchen Tagen sprengt er praktisch alle Regeln. Er ist laut, redet ständig hinein, rennt weg, ärgert die anderen Mädchen und Jungen. Alessia sieht sich langsam an einer Grenze, obwohl sie ein großes Herz und starke Nerven hat: „Ich habe ja noch mehr als dieses Kind in der Gruppe. Ich kann mich doch nicht nur um Juri kümmern!“
Unterstützung durchs Team
Wenn Kinder die pädagogischen Fachkräfte mit ihrem Verhalten herausfordern, kann das viele Gründe haben. Spätestens, wenn sich die Erzieherinnen und Erzieher zunehmend dabei ertappen, das Kind mit einem imaginären Etikett zu versehen („Er/Sie ist immer …“), sollten sie die Unterstützung ihres Teams suchen. Denn natürlich ist der eigene Blick auf ein Kind stets subjektiv und geprägt von der eigenen Biografie sowie Vorstellungen davon, was „normal“ ist. Aus der Perspektive anderer mag das Verhalten abweichend bewertet werden. Alessia bespricht sich zunächst mit ihren Teamkolleginnen. Auch sie finden Juris Verhalten oft schwierig. Vielleicht braucht er zusätzliche und andere Hilfe? In den nächsten Tagen und Wochen beobachten Alessia und die Kolleginnen Juris Verhalten sehr genau – wann genau wird es als anstrengend empfunden und wann nicht? Dies ist nicht nur wesentlich, um im Team Hilfen zu entwickeln, sondern auch, um das diffus Empfundene konkret zu machen und dann professionell mit den Eltern ein Gespräch zu suchen. Das wirkt der eigenen Abwehrspirale entgegen und spiegelt auch den Eltern, dass ihr Kind wahrgenommen wird und es auch viele tolle Seiten hat.
Eltern sensibel einbeziehen
Am Anfang jeder Intervention steht ein Elterngespräch. Dabei ist Fingerspitzengefühl gefragt; es sollte gut vorbereitet sein. Die Fachkräfte sollten signalisieren: „Wir machen uns Sorgen. Wir wollen mit Ihnen zusammen das Beste für Ihr Kind.“ Es ist sinnvoll, von den eigenen Beobachtungen zu berichten und nach der Sicht der Eltern zu fragen. Wie erleben sie ihr Kind? Haben sie Ideen, warum es sich in der Kita so verhält? Was tun sie in vergleichbaren Situationen? Was könnte dem Kind helfen? Sollen weitere Personen oder Unterstützungssysteme herangezogen werden? Nur mit Mitwirkung und Einwilligung der Eltern ist eine gute Lösung für das Kind zu erreichen, ohne Zustimmung dürfen externe Fachstellen nicht kontaktiert werden. Ein weiterer Grund für eine sensible Vorgehensweise, die auch die Unterschiedlichkeit von Erziehungs- und Lebensvorstellungen würdigt.
Hilfreich ist es, den oftmals überforderten Eltern konkrete Adressen oder Kontakte nennen zu können: Wer kann sie – abgesehen von der Kinderärztin oder dem Kinderarzt – beraten? Oft gibt es regionale, unabhängige Erziehungsberatungsstellen – manche arbeiten auch online. Diese können die Familie strukturiert über das weitere Vorgehen informieren und in konkreten Situationen unterstützen. Wo gibt es geeignete Sportvereine? Welche therapeutischen Einrichtungen (von Logopädie über Ergotherapie bis hin zu Psychotherapie) existieren in Wohnortnähe? Wohin können sich Eltern wenden, wenn sie bei Sprachbarrieren Unterstützung brauchen, um sich im Dschungel der Zuständigkeiten zurechtzufinden? Jede Einrichtung erleichtert sich selbst die Arbeit, solcherlei Kontakte im Sozialraum abrufbar und aktuell zu halten. Vielleicht kann man sich dafür mit weiteren Einrichtungen aus der Nachbarschaft zusammenschließen, um präventiv gemeinsam „Netzwerklisten“ zu erstellen – das Rad muss nicht jedes Mal neu erfunden werden.
Tipp!
Es gibt durch Kitas organisierte und durchgeführte Programme, die Eltern dabei unterstützen, die sozio-emotionalen Kompetenzen ihrer Kinder zu fördern. Eines ist „Schatzsuche“. Die pädagogischen Fachkräfte der Kita leiten die Eltern durch Workshops und geben ihnen konkrete Handlungshilfen an die Hand, um sie in ihrer Erziehungsarbeit zu begleiten.
Mehr Infos unter: www.schatzsuche-kita.de
Das Gespräch mit Juris Eltern läuft gut. Sie sehen ein, dass ihr Sohn den Kita-Alltag durcheinanderwirbelt und deutlich mehr Unterstützung bei der Selbstregulation benötigt als Gleichaltrige. Die Kita empfiehlt, Juris Kinderärztin zu kontaktieren und eine nterdisziplinäre Frühförderstelle oder ein sozialpädiatrisches Zentrum aufzusuchen. Dort kann eine umfassende Diagnostik erfolgen, um den Förderbedarf sicher festzustellen. Da der Prozess auch schon mal Monate dauern kann, vereinbaren die Erzieherinnen mit den Eltern außerdem verschiedene Maßnahmen, die Juri – aber auch die Fachkräfte und die anderen Kinder – entlasten sollen. Der Kontakt zu den Eltern sollte in dieser Phase sehr eng sein. Denn für sie stellt die drohende Diagnose einer Behinderung einen existenziellen Einschnitt dar.
Entlastende Maßnahmen
Aber auch wenn die Eltern und externe Stellen mit an Bord sind, können sich die Fachkräfte in der täglichen Auseinandersetzung aufreiben und erleben das Verhalten nicht nur als störend, sondern als belastend. Das kann dazu beitragen, dass ungewollt Kinder ausgegrenzt oder auch stigmatisiert werden. Alessia meint dazu: „Ich versuche wirklich, Zuschreibungen zu vermeiden und immer auf die Stärken der Kinder zu sehen. Aber ich weiß auch: Ein Kind, das ständig Probleme macht, hat Probleme. Es hilft nicht, das schönzureden.“
Es ist in Ordnung sich und anderen gegenüber einzugestehen, dass man an die eigenen Belastungsgrenzen gelangt. Es kann bereits helfen, sich im Kreis der Kolleginnen und Kollegen auszutauschen. Auch bewusstes, langsames Atmen, dabei mental zurücktreten und innehalten, kann in akuten Situationen davor bewahren, dem Kind gegenüber unprofessionell zu agieren. Trotzdem sollten sich Kitateams konzeptionell auf ein systematisches Vorgehen verständigen, das über individuelle Strategien hinausgeht.
Eine sinnvolle Maßnahme ist laut dem Psychologen Klaus Fröhlich-Gildhoff (siehe Beitrag „Auffallend herausfordernd), zu einem gezeigten Verhalten eine zentrale Hypothese aufzustellen und anhand derer konkrete Handlungen abzuleiten. Dabei sollte nicht nur das Kind, sondern auch das „System“ (wie Familie, Kita) betrachtet werden. Das kann etwa im Rahmen der kollegialen Fallberatung geschehen, die sich gut eignet, um über vermeintlich „schwierige“ Kinder ins Gespräch zu kommen (siehe Infokasten). Diese Besprechungsrunden entlasten alle pädagogischen Fachkräfte. Sie haben den Vorteil, dass sie ins Handeln kommen und sich nicht länger hilflos fühlen. Wenn das gesamte Team die Verantwortung übernimmt, um die herausfordernde Situation professionell zu bewältigen, nimmt dies den Druck von einzelnen Personen.
Von der Diagnose zur Frühförderung
Schließlich erhält Juris Familie tatsächlich eine Diagnose. Sie lautet, dass der Junge Förderbedarf im sozial-emotionalen Bereich hat. Er ist noch zu jung, als dass ADHS sicher diagnostiziert werden kann, aber es gibt dafür viele Hinweise. Es wird nun ein detaillierter, interdisziplinärer Förder- und Behandlungsplan aufgestellt, dabei sind auch die pädagogischen Fachkräfte der Einrichtung gefragt. Zusammen mit fachärztlichen Stellungnahmen kann die Familie nun einen Antrag auf die Kostenübernahme für die heilpädagogische Behandlung bzw. Eingliederungshilfe stellen. In der Regel ist dafür das Jugend- oder Sozialamt zuständig. Läuft es optimal, unterstützen die Kitafachkräfte die Familie bei der Antragstellung – und beim notwendigen Widerspruch gegen den ersten Bescheid. Bei Juri wird schließlich ein erhöhter Förderbedarf (I-Status A) festgestellt, was bedeutet, dass der Kita 15 bis 20 zusätzliche Fachkraftstunden pro Woche zur Verfügung stehen, die vom Amt finanziert werden.
WICHTIG: Jedes Bundesland koordiniert und gestaltet die Frühförderung auf eigene Weise, die übergeordneten rechtlichen Grundlagen sind aber immer das SGB VIII (Kinder- und Jugendhilfe), das Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG), das SGB IX (Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen) sowie die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK).
Alessia und die Kitaleiterin koordinieren die Zusammenarbeit mit der Integrationsfachkraft, die in das Kitateam integriert wird. Sie stellen gemeinsam sicher, dass die Maßnahmen des Förderplans umgesetzt werden. Regelmäßige Treffen mit den Eltern und Fachstellen dienen der Überprüfung und Anpassung der WICHTIG: Jedes Bundesland koordiniert und gestaltet die Frühförderung auf eigene Weise, die übergeordneten rechtlichen Grundlagen sind aber immer das SGB VIII (Kinder- und Jugendhilfe), das Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG), das SGB IX (Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen) sowie die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK).
Alessia und die Kitaleiterin koordinieren die Zusammenarbeit mit der Integrationsfachkraft, die in das Kitateam integriert wird. Sie stel-len gemeinsam sicher, dass die Maßnahmen des Förderplans umgesetzt werden. Regelmä-ßige Treffen mit den Eltern und Fachstellen dienen der Überprüfung und Anpassung der WICHTIG: Jedes Bundesland koordiniert und gestaltet die Frühförderung auf eigene Weise, die übergeordneten rechtlichen Grundlagen sind aber immer das SGB VIII (Kinder- und Jugendhilfe), das Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG), das SGB IX (Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen) sowie die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK).
Alessia und die Kitaleiterin koordinieren die Zusammenarbeit mit der Integrationsfachkraft, die in das Kitateam integriert wird. Sie stellen gemeinsam sicher, dass die Maßnahmen des Förderplans umgesetzt werden. Regelmäßige Treffen mit den Eltern und Fachstellen dienen der Überprüfung und Anpassung der Maßnahmen. Auch im Hinblick auf den Übergang zur Schule bleibt Alessia gefragt, denn dieser kritische Moment muss gut und früh geplant werden, damit er reibungslos verlaufen kann: Von der Erstellung eines Übergangsplans mit der Frühförderstelle und den Eltern bis zur Vorbereitung aller notwendigen Dokumente – das alles sind im Rahmen der Inklusion notwendige Schritte, damit Juri auch weiter möglichst gut unterstützt werden und sein Potenzial entfalten kann.
Eine Checkliste über die notwendigen Schritte von der Beobachtung bis hin zur Frühförderung haben wir auf unserer Webseite hinterlegt: www.kinderkinder.dguv. de/inklusion-checkliste
Kollegiale Fallberatung
Sie erfolgt nach einem klaren Schema – es finden keine offenen Diskussionen statt. Eine Person (es muss nicht die Leitung sein) moderiert und behält die Zeit im Blick.
- Wer Rat sucht, beschreibt in eigenen Worten in 5 Minuten die Situation und formuliert Fragestellung an das Team, das Team hört zu und macht Notizen.
- Das Team fragt nach, der / die Ratsuchende antwortet möglichst differenziert. Das Team wertet und interpretiert nicht. (15 Minuten)
- Das Team formuliert Hypothesen, Vermutungen und Eindrücke – aber noch keine Lösungsvorschläge. Der / Die Ratsuchende ist in dieser Phase passiv. (10 Minuten)
- Nach Abschluss der Runde nimmt der/die Ratsuchende Stellung, die beratende Gruppe korrigiert evtl. ihre Hypothesen. (5 Minuten)
- Die Gruppe formuliert Lösungsvorschläge, der / die Ratsuchende kommentiert nicht, sondern hört intensiv zu. (10 Minuten)
- Der / Die Ratsuchende erklärt der Gruppe, welche Vermutungen zutreffen könnten und welche Lösungsvorschläge er / sie umsetzen möchte. (10 Minuten)
- Die gesamte Gruppe gibt ein Feedback und tauscht sich abschließend über das Verfahren aus („Was habe ich mitgenommen?“). (5 Minuten)