Warum ist es für Kinder so wichtig, Erfahrungen in der Natur zu sammeln?
Die Natur kann die kindlichen Bedürfnisse nach neuen Erfahrungen und nach Stabilität sehr gut befriedigen. Das scheint erst einmal ein Widerspruch zu sein. Aber die Natur bekommt das extrem gut hin, besser als eine gebaute Umwelt wie ein Spielplatz. Einfaches Beispiel: Ein Baum sieht im Frühling anders aus als im Winter – durch Blüten, Blätter oder kahle Äste. Aber ich kann mich trotzdem immer darauf verlassen, dass er da ist.
Welche Vorteile bietet die Natur gegenüber Spielplätzen hinsichtlich der kindlichen Entwicklung?
In einer Studie an der Hochschule für nachhaltige Entwicklung in Eberswalde haben wir Spielplätze und drei Naturerfahrungsräume in Berlin miteinander verglichen. Diese Räume sind ein relativ neues Konzept. Dort gibt es keine Spielgeräte, sondern eigentlich nur eine Art „Wildnis“, wo die Kinder frei spielen können und sollen. Eine frühere Studie hatte schon gezeigt, dass die Kinder dort im Vergleich zu Spielplätzen stärker altersübergreifend spielen, dass sie in größeren Gruppen gemeinsam spielen und dass sie länger bei der Sache bleiben. Wir haben festgestellt, dass sie dort im Vergleich zu Spielplätzen kreativer werden und dass sie autonomer spielen, also dass Begleitpersonen oder Eltern weniger ins Spiel involviert sind.
Wie müssen die Naturerfahrungsräume denn gestaltet sein, damit sie sicher sind?
Die Räume sind mit Zäunen eingefasst, das ist versicherungstechnisch ganz wichtig. In Berlin gibt es für Naturerfahrungsräume sogenannte „Kümmerer“. Sie prüfen zum Beispiel die Sicherheit: Ist der Ast noch zum Klettern geeignet oder muss ich das Grünflächenamt verständigen? Im besten Fall verfügen diese Personen sowohl über biologische als auch über pädagogische Kompetenzen. So können die Kümmerer den Kindern einen Anstoß zum Spielen geben, wenn sie gar nicht wissen, wie sie mit dem Naturerfahrungsraum umgehen sollen. Das kommt vor und zeigt auch die Entfremdung von der Natur. Das Angebot war zunächst für Schulkinder von sechs bis zwölf Jahren gedacht, wird inzwischen aber auch gut von Kitas angenommen. Die pädagogischen Fachkräfte suchen die Orte während der Betreuungszeiten auf.
Wäre es also pädagogisch sinnvoll, wenn Kitas einfach ihre Außenspielbereiche verwildern lassen, statt sie zu pflegen und Spielgeräte aufzustellen?
Auf jeden Fall können sie ein paar Bereiche gezielt „verwildern“ lassen. Kinder lernen so, mit Unwägbarkeiten umzugehen und Bewältigungsstrategien zu entwickeln. Zum Beispiel gibt es in einem der Naturerfahrungsräume Brennnesseln. Da merken die Kinder schnell: Wenn ich da reinmuss ziehe ich besser eine lange Hose an. Oder sie nutzen das Brennnesselfeld, um mal allein zu sein, weil sich die anderen nicht hineintrauen. Auf dem Kitagelände geben Naturmaterialien wie Holzstöcke, Laubhaufen, Steine oder Sand den Kindern die Möglichkeit, selbstwirksam zu werden und ihre Umwelt zu gestalten.
Die Fragen stellten Martyna Marzec und Holger Toth
Diplom-Psychologin Dr. Dörte Martens ist Dozentin an der Hochschule für nachhaltige Entwicklung Eberswalde. Sie ist Mitherausgeberin der Zeitschrift Umweltpsychologie, für deren Sonderausgabe „Kind und Natur“ sie unter anderem einen Beitrag über eine Untersuchung zu Naturerfahrungsäumen verfasst hat.