Frau Fischer, Kitas sind soziale Lernorte und spiegeln die Heterogenität unserer Gesellschaft wider. Schon früh lernen Kinder, die verschiedenen Merkmale von Menschen wahrzunehmen und zu kategorisieren. Ist damit schon der Grundstein für Vorurteile gelegt?
Wir kategorisieren automatisch, weil unser Gehirn so funktioniert. So lernen wir. Eine idealtypische Vorstellung eines Baumes etwa erleichtert es uns, eine große Pflanze mit grünen Blättern als Baum zu erkennen. Auch in Bezug auf Menschen kategorisiert unser Gehirn. Ein Beispiel: Mann mit weißem Kittel und Stethoskop: Arzt. Mann in Kita mit Werkzeug: Hausmeister. Schwierig wird es dann, wenn wir den Personengruppen Eigenschaften zuschreiben und diese Eigenschaften auf Individuen übertragen. Dann bilden wir uns ein Urteil über eine Person aufgrund einer sehr schlechten Basis – also ein Vorurteil. Das passiert uns allen und ist auch nicht tragisch. Erst wenn wir diese Person aufgrund dieser Vorurteile anders behandeln, handeln wir ungerecht, diskriminierend und können sie damit sehr verletzen. Darüber hinaus bevorzugen Menschen Dinge, die sie kennen, denn das gibt Vertrauen und Sicherheit. In schwierigen Zeiten neigen wir allerdings dazu, das zu übertreiben, was dazu führen kann, dass wir andere abwerten, um uns selbst aufzuwerten.
Was bedeutet das für pädagogische Fachkräfte und das pädagogische Handeln?
Zunächst benötigen sie konkretes Wissen über diese Zusammenhänge. Natürlich wird niemand vorurteilsfrei durchs Leben gehen, aber das ist auch nicht der Anspruch, solange man in der Lage ist, das pädagogische Handeln am Kind zu reflektieren, also etwa, ob diesem in bestimmten Situationen Vorurteile zugrunde liegen.
Sollte sich ein Team darauf einigen, was als Diskriminierung gilt – ganz gleich in welchem Kontext? Sei es, wie Kinder miteinander umgehen, sei es bei markigen Sprüchen von Elternseite oder auch innerhalb des Teams.
Ja, unbedingt. Hier ist vor allem die Leitung in der Verantwortung, das in ein Leitbild zu gießen. Es muss dann aber auch wirklich gelebt werden und sich etwa auch in der Zusammensetzung der Belegschaft abbilden. Je mehr Erfahrung von Unterschiedlichkeit die Kinder machen, umso mehr wird es ihre Normalität. Kinder lernen so Werte wie Toleranz, Akzeptanz und Wertschätzung gegenüber anderen Menschen und Kulturen. Wenn es ein pädagogisches Konzept gibt, das dies berücksichtigt, kann man bei Grenzüberschreitungen etwa seitens der Eltern besser reagieren und mit Hinweis auf dieses Konzept das Gespräch suchen. Natürlich können Eltern denken, was sie möchten. In der Kita haben aber die Fachkräfte das Hausrecht. Und das ermöglicht es, von Eltern zu verlangen, dass bestimmte Dinge nicht passieren und nicht geäußert werden.
Was kann eine Fachkraft konkret in einer grenzüberschreitenden Situation tun?
Ich glaube, eine Patentlösung gibt es hier nicht, das hängt sehr stark von der Situation ab. Aber ich möchte den Blick auf einen anderen Aspekt richten: Was wäre denn, wenn sie nichts macht? Wenn sie nichts unternimmt, bedeutet es, dass das Verhalten normal ist, dass es unsere Realität ist, dass es eben solche Ansichten gibt. Bei Kindern neigt man oft dazu, über diskriminierendes Verhalten hinwegzusehen nach dem Motto: „Na ja, die sind noch klein, die wissen das noch nicht besser.“ Allerdings: Kinder lernen am Modell, also durch Beobachten und Nachahmen. Immer dann, wenn eine Fachkraft diskriminierendes oder unfaires Verhalten ignoriert, macht sie es zur Realität und Normalität, an der sich Kinder orientieren. Sie übernehmen unsere Bewertungen, Ansichten, unsere Art zu kategorisieren. Wir haben demnach eine große Verantwortung!
Kinder sollen also schon in jungen Jahren erkennen, dass Menschenwürde nicht verhandelbar ist und nicht an Vermögen, Sprache, Geschlecht, Hautfarbe oder Nationalität festgemacht werden kann?
Ja! Und sie sollen auch nicht die Erfahrung machen müssen, dass es normal ist und zur Welt dazugehört und man es aushalten muss, wenn einzelne Personengruppen – oder auch sie selbst – abgewertet werden.
Wie können Kitas dazu beitragen, kritisches, vorurteilsbewusstes Denken und Handeln zu fördern?
Für mich ist das Wichtigste: vorleben. Fachkräfte sollten sich nicht aus Bequemlichkeit oder Konfliktscheu wegducken, das kindliche Verhalten nicht runterspielen oder Ähnliches. Die Reaktionen der Erwachsenen sind es, die den Kindern eine Einordnung ermöglichen. In einem Satz zusammengefasst, ist vorurteilsbewusste Erziehung und Bildung der Anspruch, alle Kinder in ihren Identitäten zu stärken und ihnen Erfahrungen mit Vielfalt zu ermöglichen.
Können Sie das bitte erläutern?
Kinder in ihrer Identität zu stärken, heißt etwa, dass sie in der Kita etwas wiederfinden, das sie aus ihrem Zuhause kennen. Konkret also: Gibt es Anknüpfungspunkte in der Kita zu ihrer Lebenswirklichkeit in der Familie? Gibt die Einrichtung einem Kind, das aus einem anderen kulturellen, religiösen, weltanschaulichen Zusammenhang kommt, genug Raum? Wird dies wertgeschätzt oder verlangt man „Anpassung“? Macht das Kind womöglich die Erfahrung, dass es „irgendwie anders“ und „unnormal“ ist? Das kann sehr stark die Neugier und sogar den Bildungserfolg eines Kindes hemmen. Wertschätzung von Vielfalt kann sehr niedrigschwellig erfolgen oder auch als Projekt angelegt werden. Jedes Kind könnte zum Beispiel ein Foto seiner Familie mitbringen, da gibt es ja viele unterschiedliche Konstellationen. Und dann sehen sich das alle gemeinsam an und reden darüber, man lässt die Kinder erzählen und fragen.
Fällt Ihnen ein Beispiel ein, bei dem Sie persönlich denken: Gut gedacht, schlecht gemacht?
Tatsächlich finde ich es manchmal befremdlich, mit welcher Selbstverständlichkeit in Kitas selbst ohne konfessionellen Träger christliche Feste gefeiert werden, wie etwa Sankt Martin oder Fasching. Das passiert oft sehr unreflektiert. Nicht alle Kinder können damit etwas anfangen. Auch wenn Sankt Martin in Lichterfest umbenannt wird, damit sich etwa Muslime nicht diskriminiert fühlen und an der Feier teilhaben können, bleibt es ein christliches Fest – und Muslime werden vermutlich trotzdem nicht teilnehmen. Die Forderung danach kommt übrigens nicht von Muslimen! Was spricht dagegen, auch wichtige Feste anderer Religionen zu feiern oder die betroffenen Gruppen direkt zu fragen? Überhaupt bemerke ich, dass es häufig offenbar wichtiger ist, möglichst korrekte Begriffe für alles zu finden, ohne die dahinterliegenden Vorurteile oder Annahmen zu thematisieren. Denn die sind durch eine Umbenennung ja nicht verschwunden.
Katja Fischer ist Psychologin und Mitglied des Arbeitskreises „Vielfalt“ der Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege (BGW).
Auf der Webseite www.situationsansatz.de finden Sie viele Informationen zum Thema. Hilfreich und für die Praxis sehr geeignet sind die Materialien der Datenbank www.vielfalt-mediathek.de unter dem Reiter „Vielfalt gestalten“.