KURZ GESAGT!
_ Keine Angst vor Neuem und Ungewohntem!
_ Inklusion ist (noch immer) ein stetiger Lernprozess
_ Das Erlernen der Gebärdensprache ist für Taube Kinder essenziell für die Teilhabe
Uljana und Ela sind ein Herz und eine Seele. Es gibt sie nur im Doppelpack. Die beiden Mädchen tanzen quiekend und hüpfend durch den Flur, nachdem sie zuvor hingebungsvoll Bilder mit Glitzerkleber verziert haben: Einhörner und Regenbögen sind gerade hoch im Kurs. Wenn Ela ihre Freundin beschreibt, dann reibt sie sich in einer kreisenden Bewegung über die Wange, während sie kichert: „Uljana ist so lustig!“ Die kleine Geste ist Uljanas Gebärdenname. Alle Kinder und Erwachsenen in der Fröbel-Kita „Wangener Höhe“, einer Regelkita im Stuttgarter Osten, haben einen solchen. Uljana sucht ihn bereits für die Krippenkinder aus: Was passt zu dem Kind? Was ist unverwechselbar? Die Vierjährige hat einen ganz präzisen Blick, sodass der Gebärdenname oft eine klitzekleine Charakterisierung der Person ist. Uljana ist Expertin im Gebärden, es ist ihre Muttersprache, denn sie ist Taub.
Im Kita-Alltag helfen ihr abwechselnd drei Assistenzkräfte. Das ist nicht selbstverständlich. Nur mit viel Durchhaltevermögen konnten die Eltern bei den entsprechenden Stellen durchsetzen, dass ihre Tochter bis zum Schuleintritt ganztägig durch eine gebärdensprachunterstützende Assistenz begleitet wird. Es war den Eltern wichtig, dass diese ebenfalls gehörlos ist, damit Uljana merkt: Ich bin nicht allein „anders“ und meine Assistentinnen sind selbstbewusste und selbstständige Frauen – das kann ich auch werden. Den hörenden pädagogischen Fachkräften zufolge ist sie diesbezüglich auf dem besten Weg. „Uljana ist ein tolles Kind mit einer fantastischen Selbstwirksamkeit“, meint etwa Melanie Ammann, die stellvertretende Leiterin der Kita. „Es freut mich zu sehen, dass sie ein so lebendiges, fröhliches und resilientes Kind ist.“
Erst durch Uljana, ihre Familie und die Assistentinnen hat das Team – besonders unter der seit einem knappen Jahr tätigen Leitung von Vivien Zmuk und Melanie Ammann – Inklusion als ein Kernthema für ihre Einrichtung entdeckt. „Wir sind noch auf dem Weg, aber wir meinen es ernst und wollen in Zukunft für weitere gehörlose Kinder eine gute Umgebung schaffen und bilden uns dazu fort“, erklärt Kita-leiterin Vivien Zmuk. Perspektivisch soll die Kita „Wangener Höhe“ die Kita in der Region werden, die sich der Inklusion gehörloser Kinder annimmt.
Cochlea-Implantat vereinfacht für Hörende vieles
Da Uljana Cochlea-Implantate (CI) hat, kann sie Lautsprache „hören“ und auch gut in Lautsprache sprechen. Das erleichtert vieles. Die Gebärdensprachdolmetscherin Petra Daalmann, die als Geschäftsführerin von TalaMano auch die Assistenzkräfte von Uljana organisiert, verdeutlicht: „Durch ein CI können gehörlose Menschen zwar hören, aber es sind zunächst nur Geräusche. Aus diesem ‚Brei‘ müssen sie die wichtigen Informationen herausfiltern und dann noch den Sinn verstehen. Auch ist es schwierig, die Richtung eines Geräuschs auszumachen. Das alles ist – gerade für Kinder – sehr anstrengend.“ Ein CI ist zwar ein gutes Hilfsmittel, trotzdem gilt es, die Barrieren für gehörlose Menschen so gering wie möglich zu halten, etwa durch das zusätzliche Verwenden visueller Signale.
Uljana steht mit ihrer Assistentin Sonja* in stetem Augenkontakt, etwa wenn ihr in einer Situation etwas unklar ist. Sonja gebärdet dann eine Erklärung. Zu Hause lernt Uljana die Deutsche Gebärdenspräche – eine anerkannte eigenständige Sprache mit eigener Grammatik. Sonja ist für die Vierjährige somit auch ein gebärdensprachliches Vorbild, mit dem sie außerhalb der Lautsprache kommunizieren kann, ein wichtiger Aspekt der Inklusion. Es fällt auf, dass einige der pädagogischen Fachkräfte auch im Umgang mit anderen Kindern ihre Worte mit Gebärden begleiten. Darauf angesprochen lacht Melanie Ammann: „Wir sind darin noch nicht sehr gut. Sonja und die anderen Assistentinnen bringen uns viel bei und wir werden täglich besser.“ Zur Frage, ob ein Teil des Teams die Gebärdensprache systematisch erlernen möchte, sagt sie: „Das Interesse ist auf jeden Fall vorhanden!“ Sie empfindet diese Sprache als sehr wirkmächtig. „Auch Kinder, die akustisch sprechen können, verwenden zunehmend die Gebärdensprache in ihrer Kommunikation mit anderen Kindern – so wird Inklusion intuitiv in der frühen Kindheit gelebt.“
Hilfreich ist sicherlich, dass man überall im Gebäude auf Piktogramme mit Bildern und den entsprechenden Gebärden stößt: die Zahlen, die Buchstaben, die Wochentage und Monate, der Ausdruck für verschiedene Gefühle. Es gibt eine Gebärde der Woche und an jedem Eigentumsfach hängt neben dem Namen und dem Foto des Kindes auch eines mit der dazugehörigen Gebärde.
Gebärdensprachdolmetscherin für komplexe Gespräche
Die Verständigung zwischen den pädagogischen Fachkräften und den Assistenzkräften erfolgt mithilfe von bereits gelernten Gebärden, Pantomime oder auch mal schriftlich. Für angekündigte komplexere Gespräche, zum Beispiel das Entwicklungsgespräch mit Uljanas Eltern, kommt eine Gebärdensprachdolmetscherin oder ein -dolmetscher hinzu. Da Uljana beide Sprachen gut beherrscht – die Lautsprache sowie die Gebärdensprache –, käme sie notfalls auch allein gut zurecht. „Da hat sie große Vorteile“, gebärdet Sonja. Dass sie selbst gehörlos ist, stellt in der täglichen Arbeit kein Hindernis dar. „Inzwischen wissen das alle und stellen sich darauf ein.“
Ideal wäre es, wenn es in einer Kita nicht nur ein einzelnes gehörloses Kind gäbe, sagt Petra Daalmann. „Dann haben die Kinder untereinander die Möglichkeit des Austauschs und wissen: Ich bin mit meiner Besonderheit nicht allein“, erläutert sie. Zudem stärke dies den Aufbau der Kompetenzen eines Teams im Hinblick auf die Bedürfnisse Gehörloser.
Inklusion ist ein Prozess
Sonja begleitet ihren Schützling Uljana bereits seit den ersten Tagen in der Kita „Wangener Höhe“. Zunächst war die Einrichtung nur rudimentär auf die Aufnahme eines Tauben Kindes vorbereitet und so waren die Anfänge für alle ein Lernprozess. Vivien Zmuk, die zu der Zeit noch in einer anderen Kita beschäftigt war, sieht sich und ihr Team auf einem guten Weg. Der Träger unterstützt dabei mit großzügigen Regelungen für Fortbildungen, schließlich ist Inklusion auch als zentrales Thema in den Qualitätskriterien benannt. So hat erst kürzlich das gesamte Kitateam über die Fröbel-Fachberatung an einer ganztägigen Schulung zur Sensibilisierung zum Umgang mit Menschen mit Hörbeeinträchtigungen teilgenommen. „Dadurch haben wir neue Standards für uns entwickelt“, erläutert Melanie Ammann. Vieles sei dennoch „Learning by Doing“. Vivien Zmuk betont, dass es zwingend einer objektiven Grundhaltung der Fachkräfte zu Inklusion und inklusiver Pädagogik bedürfe, um einem behinderten Kind positiv entgegenzutreten. „Wir leben das aufgrund unserer Vorbildfunktion den Kindern und Eltern vor. Aber es ist von Beginn bis heute ein Prozess.“
Melanie Ammann spricht allen Fachkräften Mut zu, die bei der Überlegung noch zögern, die Einrichtung für Gehörlose zu öffnen. „Es ist machbar, und es ist auf so vielen Ebenen bereichernd!“ Kitaleiterin Zmuk wünscht sich, „all das, was wir aufgebaut haben und weiter aufbauen werden, weitergeben und leben zu kön-nen. Auch dann, wenn Uljana in zwei Jahren in die Schule kommt und nicht mehr bei uns im Haus ist.“
Aber noch tobt Uljana mit ihren Freundinnen durch die Räume und Flure. Mittendrin, so wie es sein soll.
AHA
Gehörlose sind auf andere als akustische Signale angewiesen. Warnsignale, etwa der Feueralarm, müssen deshalb für sie auch über andere Sinne (Lichteffekte, Vibrationen) wahrnehmbar sein. Bei den Gefährdungsbeurteilungen müssen die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen – egal ob Beschäftigte oder Kinder – berücksichtigt werden. Wie eine solche aussehen könnte, ist beispielhaft in diesem PDF „Inkludierte Gefährdungsbeurteilungen“ dargestellt: https://kurzlinks.de/1nec