Die Tür nach draußen öffnen

Ihr Handbuch trägt den Titel „Naturraumpädagogik“.
Was verstehen Sie unter dem Konzept?

Anke Wolfram: Zahlreiche Studien zeigen, dass sich Spiel- und Lernumgebungen in der Natur positiv auf die körperliche und geistige Entwicklung von Kindern auswirken. In der Natur können sich Kinder erholen und zur Ruhe kommen, gleichzeitig werden vielfältigste Bildungsprozesse angeregt.

Das Konzept, dass Kinder von und in der Natur lernen, gibt es doch schon eine ganze Weile.

Ja, man spricht hier oft von Waldpädagogik, die aus der Forstlichen Bildungsarbeit kommt und meist nur den Aspekt der Umweltbildung beinhaltet. Mein Ansatz verfolgt hingegen das Ziel, den Naturraum als umfassenden Bildungsraum zu verstehen und Kompetenzen zu stärken, so wie es in der Bildung für nachhaltige Entwicklung, kurz: BNE, verstanden wird.

Inwiefern?

BNE soll Kinder dazu befähigen, im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung zu denken und zu handeln. Nehmen wir das Beispiel „Ressourcen“: Im Wald gibt es kein Spielzeug, sondern nur Naturmaterialien. Nach dem Motto „Weniger ist mehr“ lernen die Kinder, mit den begrenzten Ressourcen der Natur kreativ zu werden. So hat ein Holzstock zum Beispiel eine große Zuschreibungsvielfalt: Er kann als Kochlöffel, Zauberstab oder Steckenpferd fungieren.

Ganz ähnlich verhält es sich mit dem frischen Wasser, das wir zum Kochen und Händewaschen mit in den Wald nehmen. Da es nur begrenzt vorhanden ist, bekommen die Kinder ein Bewusstsein dafür, in einer Gruppe sparsam mit dem Verfügbaren umzugehen.

Sie schreiben, dass Kinder im Naturraum aktive Gestalter sind. Was meinen Sie damit?

Im Spiel in der Natur versinken die Kinder oft in ihren Bewegungen, Gedanken und Handlungen. Man kann in diesem „Urspiel“ oft beobachten, dass sie eine Art „Prozess der Zivilisation“ durchlaufen, indem sie Jäger, Bauern, Sammler, Werkzeugmacher oder Ähnliches verkörpern. Dies zieht eine hohe Gestaltungskompetenz nach sich, weil die Kinder sich ihrem Entwicklungsstand entsprechend ihre Umwelt erschließen und daraus lernen. Sie werden zu Entdeckern ihrer eigenen Bildungsgeschichte.

Wie kann man Ideen der Naturraumpädagogik in Hauskitas übertragen?

Schon bei der Materialauswahl in der Einrichtung gibt es Möglichkeiten: Erzieher und Erzieherinnen können überlegen, wie viel Spielzeug überhaupt nötig ist und welche Naturmaterialien man, zum Beispiel für Bastelarbeiten, von draußen nach drinnen holen kann.

Bei der Gestaltung von Außenflächen kann man darauf achten, Brachflächen zu integrieren und Teile eventuell verwildern zu lassen. Es ist nachgewiesen, dass naturnahes Gelände einen höheren Aufforderungscharakter hat als konstruierte Spielgeräte.

Ich plädiere dafür, die Tür nach draußen zu öffnen und so viel Zeit wie möglich im Freien zu verbringen. Immer mehr Kitas führen „Waldtage“ oder „Waldwochen“ ein. Dazu kann es hilfreich sein, Kooperationen mit anderen Kitas, etwa eine Patenschaft mit einem Waldkindergarten, ins Leben zu rufen. So können sich die Kinder gegenseitig besuchen und voneinander lernen. Diese Idee fördert auch auf der sozialen Ebene, unter den Fachkräften, ein vernetztes Denken und zudem eine nachhaltige Entwicklung der Einrichtung selbst, weil man sich Anregungen mit auf den Weg geben kann.

Ich kann mir vorstellen, dass Sie oft mit Fragen der Sicherheit und Hygiene konfrontiert sind, wenn es um den längeren Aufenthalt von Kindern im Freien geht.

Im Waldkindergarten gibt es natürlich feste Regeln und Vorschriften, die eingeübt und immer wieder kommuniziert werden. Was kürzere Aufenthalte im Freien angeht: Am besten packt man einen Bollerwagen mit dem Nötigsten wie Wechselkleidung, Trinkwasser, Erste-Hilfe-Ausstattung. Der steht dann immer für spontane Ausflüge bereit. Als pädagogische Fachkraft muss ich mich im Vorfeld etwa darüber informieren, wie es um die Beschaffenheit eines Waldstücks bestellt ist, welches Gelände man als Kitagruppe betreten darf, ob dafür eine spezielle Genehmigung notwendig ist. Natürlich gehört auch eine ausreichende Kommunikation mit den Eltern und deren Einverständnis dazu, wenn es darum geht, eine Waldwoche oder Ähnliches durchzuführen.

Wahrscheinlich haben einige Erzieher und Erziehrinnen noch wenig Berührungspunkte mit dem „Bildungsraum Natur“.
Wie nähern sie sich dem Thema am besten an?

Die Erfahrung zeigt, dass pädagogische Fachkräfte Druck verspüren, etwas abliefern zu müssen, gerade was die vermeintliche Erwartungshaltung der Eltern angeht. Daraus ergibt sich ein durchgetakteter Alltag in der Kita, der nur schwer aufzubrechen ist. Ich empfehle, eine offene Haltung gegenüber dem Naturraum einzunehmen, schließlich ist ein Tag in der Natur nicht wirklich planbar. Es hilft, aufkommende Fragen der Kinder aufzugreifen, Assoziationen zuzulassen und gemeinsam mit ihnen über Phänomene in der Natur in einen Dialog zu treten. Das In-der-Natur-Sein begünstigt eine pädagogische Haltung, die sich auf spontane Begebenheiten einstellt, sei es der Bauer, der übers Feld fährt, oder der Regenwurm, der aus dem Waldboden kriecht.

Die Fragen stellte Verena Schmidt