KURZ GESAGT!
_In Waldkindergärten gibt es viel Freispiel und trotzdem klare Regeln
_Die Kinder lernen im Wald alle Fertigkeiten, die sie für die Schule brauchen
_Die Kommunikation und Zusammenarbeit mit den Eltern sind sehr eng
Lena hält mit ihrer behandschuhten Hand eine Zahl hoch: eine Sechs. So kalt ist es heute früh um neun Uhr auf der kleinen Lichtung im Wiesbadener Dambachtal, wo sich der Wanderkindergarten zum Morgenkreis zusammengefunden hat. Bis die Jungen und Mädchen um halb eins wieder abgeholt werden, wird es nicht viel wärmer werden, auch wenn es schon Ende April ist. Den Kindern macht das nichts aus, sie sind dick im Zwiebellook angezogen, manche mit Matschhosen, viele mit Regenkappen, alle mit wasserfesten Schuhen. Der Wanderkindergarten trifft sich bei Wind und Wetter, und anders als viele andere Waldkindergärten hat er keinen Bauwagen, keine Hütte, in die man sich bei Regen oder Schnee zurückzieht. „Ist Sturm oder Gewitter angesagt, machen wir einen Ausflug ins Museum oder in die Bibliothek. Wir könnten auch in die Räume einer Kita ausweichen“, erklärt die Leiterin des Wanderkindergartens, Melanie Remmers. Einige Wanderhütten im Wald bieten Schutz bei einem Regenguss. Heute ist es einigermaßen trocken und weil Elias Geburtstag hat, darf er sich wünschen, wohin die Gruppe wandert.
Zum „Rutscheloch“ soll es gehen – einer Senke im Wald, die man prima auf dem Popo herunterrutschen kann. An anderen Tagen entscheidet die Kindergruppe gemeinsam über den Platz, den sie ansteuern will.
Alles Wichtige ist im Radanhänger dabei
„So, dann holt mal eure Rucksäcke“, heißt es bald und die Mädchen und Jungen stürmen los. Erzieherin Nadin Al Tamimi packt noch das Material vom Morgenkreis in den Radanhänger, mit dem als „Packesel“ allerlei Nützliches und Wichtiges transportiert wird: zum Beispiel Wasser, Seife und Handtuch, Windeln und Tücher für die beiden Wickelkinder, der Erste-Hilfe-Pack, Spielmaterial wie ein Schwungtuch, kindgerechte Schnitzmesser sowie ein Schippchen, um das große Geschäft verbuddeln zu können. „Bei den Kindern stellt sich die Verdauung aber schnell so ein, dass sie meistens nur zum Pipimachen hinter die Büsche huschen müssen“, weiß Melanie Remmers aus ihrer langjährigen Erfahrung.
An Haltestellen wird gewartet
Auf dem Weg zum Rutscheloch kommt man am Wichtelpostkasten vorbei – gleichzeitig die erste sogenannte Haltestelle. Remmers erklärt: „Auf allen häufig genutzten Strecken gibt es Stellen, an denen wir aufeinander warten müssen. Erst wenn alle da sind, dürfen die Kinder weitergehen. Das ist eine der Regeln, die sie als Erstes lernen.“ Denn natürlich haben die Kinder ein unterschiedliches Tempo – je nach Länge der Beine, Tagesform und dem, was sie unterwegs entdecken und genauer untersuchen möchten. Obwohl der Wald viele Möglichkeiten zum Verstecken und Abtauchen im Grün bietet, verlieren die beiden Erzieherinnen und ihr Kollege Justus Barton nicht den Überblick. Von Vorteil ist sicherlich der gute Betreuungsschlüssel von zwei bis drei Fachkräften für die 15 Kinder zwischen drei und sechs Jahren.
Immer in Bewegung
An der nächsten Haltestelle wird es turbulent. Mattea nimmt Anlauf und saust dann mit einem lauten „Aus der Bahn!“ quer über den Weg auf eine dicke Buche zu, deren bemooster Stamm etwas schief steht. Wie hoch kommt sie heute? Auch Karl und Samson machen mit und nachdem Felicitas eine Weile zugeguckt hat, legt sie ihren Rucksack ab. „Jetzt will ich auch mal mein Glück versuchen“, sagt sie und stellt sich in die Reihe. Erst als niemand mehr Lust hat, geht die Gruppe des Wanderkindergartens weiter zur nächsten Station ihres heutigen Spaziergangs durch den Wald. Überhaupt nimmt man sich Zeit, niemand hetzt, man lässt sich eher von den Interessen der Kinder und dem leiten, was die Natur für Überraschungen bereithält. Melanie Remmers ist überzeugt: „Die Kinder sind geerdet. Wenn sie sich beispielsweise später in der Schule gestresst fühlen, wissen sie, was ihnen guttut und wie sie in der Natur zur Ruhe kommen können. Das ist ein unglaublicher Schatz.“
Der nächste Halt ist die Spielekreuzung. Mit selbst gemalten Karten für verschiedene Spiele entscheiden sich die Kinder für ein Bewegungsspiel – wobei sich diesmal wieder das Geburtstagskind etwas wünschen darf. Bewegung und damit motorische Sicherheit bekommen die Kinder auf jeden Fall ausreichend. Selbst die kleine Flora, das Nesthäkchen der Gruppe, wandert klaglos mit und stolpert auch abseits der befestigten Wege nicht. Ihre älteste Schwester Livia ist schon ein Vorschulkind. Sie darf auch mal Geheimwege gehen, ein Privileg für die „großen“ und verlässlichen Kinder.
Auch der Wald bereitet auf die Schule vor
Sechs Vorschulkinder entlässt die Gruppe im Sommer in die Schule: traditionell mit einer großen Wanderung und anschließender Zeltübernachtung im Kindergarten-Garten. Auf diesem gepachteten Gartengrundstück wird der Abschied im Kreis aller Familien gefeiert. „Es gibt eine Karikatur, die zeigt ein Waldkitakind, das in die Schreibtischplatte schnitzt, statt ins Heft zu schreiben. Das ist natürlich Quatsch“, schmunzelt die Pädagogin. „Unsere Arbeit basiert auf dem Bildungs- und Erziehungsplan wie in jeder anderen Kita auch.“ Doch im Wanderkindergarten lernen die Kinder die nötigen Fertigkeiten auf andere Weise. Nicht mit Schwungübungen auf Arbeitsblättern, sondern mit Bewegungsspielen und vielfältigen motorische Reizen, etwa auch Schnitzerfahrung und dem Legen von Naturmandalas. Teamarbeit, Kooperation, aufeinander achten und Rücksicht nehmen – ohne diese sozialen Kompetenzen ist ein Tag im Wald nicht denkbar.
„Außerdem haben wir jeden Freitag Kunsttag, an dem wir mit den Kindern malen, töpfern, basteln, werken oder filzen“, führt Melanie Remmers weiter aus. Zudem bestehe eine Kooperation mit einer Grundschule, die die Vorschulkinder aller Kitas im Umkreis an bestimmten Terminen besuchen, um schon mal in die Welt der Schule hineinzuschnuppern. Auch Portfolio-Arbeit gibt es in der Waldkita – statt in einem Ordner wird das Dokument für jedes Kind auf dem Tablet gepflegt und die Datei der Familie zwei bis dreimal im Jahr auf einem Speicherstick zum Anschauen und Ausdrucken überlassen.
Der Wald ist ein besonderer Lehrer: Alle, die hier viel Zeit verbringen, schätzen die enge Verbindung zur Natur, das Erleben der Jahreszeiten mit allen Sinnen, lernen Achtsamkeit sowie Respekt vor großen und kleinen Lebewesen. Nur bei Zecken hört die Liebe auf, auch wenn der sechsjährige Emil bereits weiß, dass die zu den Spinnentieren zählen und deshalb acht Beine haben. Zeckenstiche sind im Wald immer möglich, eine tägliche Kontrolle durch die Eltern ein Muss. „Wenn wir eine Zecke entdecken, entfernen wir sie, sofern wir dafür das Einverständnis der Eltern haben. Wir markieren die Stelle und informieren die Eltern beim Abholen“, führt Melanie Remmers aus, wie sie und ihre Kolleginnen und Kollegen mit dem Thema umgehen.
TIPP
In Ausgabe 2/24 gibt es viele Infos zu Zeckenstichen bei Kitakindern:
www.kinderkinder.dguv.de/zeckenstich/
„Busch-und-Baum-Gespräche“ mit Eltern
Während Hauskitas mit Aushängen über Kinderkrankheiten, Ausflüge und anderes informieren, nutzt man im Wanderkindergarten neben dem intensiven persönlichenKontakt gern auch digitale Kommunikationswege. „Aber wir verteilen auch Zettel. Einmal im Monat kommt unser Elternbrief ganz klassisch auf Papier“, gibt Erzieherin Nadin Al Tamimi ein Beispiel. Die Zusammenarbeit mit den Eltern ist eng und wichtig. Da insgesamt nur 15 Kinder betreut werden, ist die Verbindung zu den Familien und der Familien untereinander vielleicht sogar enger. Für kürzere Elterngespräche gibt es auch im Wald Gelegenheit – etwa während eines „Busch-und-Baum-Gesprächs“, das das Äquivalent zu den bekannten Tür-und-Angel-Gesprächen ist. Zu Elternabenden trifft man sich im Kindergarten-Garten, wo auch die Entwicklungsgespräche stattfinden. Letztere machen die Fachkräfte jedoch durchaus auch bei den Familien zu Hause. Die Zusammenarbeit mit den Eltern gestaltet sich inhaltlich nicht anders als in Einrichtungen mit Dach und Wänden.
Inzwischen ist die Kindergruppe am Leseplatz angekommen. Die Sonne linst für kurze Zeit hinter den Wolken hervor. Die Mädchen und Jungen setzen sich erwartungsvoll auf die Baumstämme, die einen großen Kreis bilden. Denn jetzt folgt ein geliebtes Ritual. Melanie liest vor. Da wird auch der muntere Leo ganz ruhig. Gleich geht es weiter durch den Wald, das Rutscheloch wartet schon.
Der Wanderkindergarten Wiesbaden e. V. ist der älteste Waldkindergarten Deutschlands: Er wurde bereits 1968 gegründet und nutzt noch immer das gleiche Waldgebiet an den Ausläufern des Taunus, das inzwischen aber naturnah bewirtschaftet wird. Zur Revierförsterei besteht ein enger Kontakt, ebenso zu den anderen Waldkitas Wiesbadens. Mehr Infos unter:
https://kurzelinks.de/rhiy