Auffallend herausfordernd

KURZ GESAGT!

_Den Fokus nicht nur auf das Kind richten, sondern auch sich selbst als Fachkraft oder Einrichtung miteinbeziehen

_Ein pädagogisches Konzept zum Umgang mit herausfordernden Verhal-tensweisen gibt Handlungssicherheit

Ein fiktives Beispiel einer Situation beim Essen: Michael tanzt immer wieder aus der Reihe. Der Vierjährige schreit und wirft mit Essen. „Michael ist aggressiv“, sagt Frau Schmidt zu ihrer Kollegin. Damit hat die Erzieherin dem Jungen den Stempel „verhaltensauffällig“ aufgedrückt. Und gleichzeitig ausgedrückt: Das Problem liegt beim Kind, vielleicht auch im familiären Umfeld, hat aber nichts mit unserer Kita zu tun.

Besser wäre, Frau Schmidt würde es gegenüber ihrer Kollegin anders formulieren: „Wie Michael sich beim Essen verhält, empfinde ich als aggressiv.“ Ein Perspektivenwechsel mit großer Wirkung, der Fokus liegt nicht mehr ausschließlich auf dem Kind, sondern auf dessen Verhalten. Die Fragen, die sich ergeben: Warum fühlt sich Frau Schmidt so herausgefordert? Und wie sehen das die Kolleginnen und Kollegen? „Mit diesem Ansatz kann ich etwas verändern“, sagt Prof. Dr. Klaus Fröhlich-Gildhoff, Psychotherapeut für Kinder- und Jugendliche. „Dieser Blick auf das Kind und die Situation macht mich als Fachkraft, uns als Team und als ganze Einrichtung handlungsfähiger.“

Auffälligkeiten zeigen sich manchmal laut, aber meistens leise

Bei etwa 20 Prozent der Kinder und Jugendlichen besteht das Risiko für psychische Auffälligkeiten. Diese drücken sich vor allem auf zwei Arten aus: Entweder ziehen sich Kinder über einen längeren Zeitraum zurück, sie weinen, meiden den Kontakt zu anderen oder sind ängstlich (internalisierendes Verhalten). Oder sie werfen mit Gegenständen, schlagen und beißen, verletzen sich und andere (externalisierendes Verhalten). „Das macht zwar nur ein Drittel der Kinder, die auffällig werden“, sagt Fröhlich-Gildhoff, „aber diese Kinder stören und bekommen deshalb vorrangig die Aufmerksamkeit der Fachkräfte.“ Sein Appell: „Vergesst auch die Mehrheit der stillen, zurückgezogenen Kinder nicht!“

Kitas fehlt häufig ein pädagogisches Konzept

Als Co-Leiter des Zentrums für Kinder- und Jugendforschung der Evangelischen Hochschule Freiburg hat Fröhlich-Gildhoff eigene Studien zum Thema durchgeführt. Nur jede fünfte Kita hat demnach ein pädagogisches Konzept zum Umgang mit herausfordernden Verhaltensweisen. „Dabei schätzen Fachkräfte die eigene Belastung als höher ein, je geringer sie ihre eigene Kompetenz erleben“, betont Fröhlich-Gildhoff. Also wäre ein systematisches und methodisches Vorgehen wichtig, um die Handlungssicherheit der Fachkräfte zu stärken.

Fehlt ein solches Konzept, passiert oftmals etwas, das Fröhlich-Gildhoff als „Abkürzungspädagogik“ bezeichnet: Ein Kind verhält sich störend, die Fachkraft handelt intuitiv. Aber eine nachhaltige Verbesserung der Situation lasse sich so nicht erzielen. „In Akutsituationen, wenn ein Kind etwa ein anderes beißt, muss ich natürlich sofort handeln“, räumt der Psychologe ein.

Der Kreislauf professionellen Handelns

Fröhlich-Gildhoff hat für den Kita-Alltag ein Handlungskonzept zum Umgang mit herausforderndem Verhalten entwickelt (HeVeKi), das die Kompetenzen der Fachkräfte stärkt. In unserem Beispiel könnte das so aussehen:

  1. Beobachten: Michael gerät in Essenssituationen unter Stress, schreit und wirft mit Essen.

  2. Analysieren / Verstehen: Warum verhält sich Michael so? Was können Frau Schmidt und das Team tun? Gemeinsam stellen die Fachkräfte zwei Annahmen auf: Entweder braucht Michael a) mehr Bindungssicherheit oder b) mehr Orientierung in der Großgruppensituation Mittagessen.

  3. Handlungsplanung: Das Team plant gemeinsam die nächsten Schritte. Entweder beschäftigt sich a) Frau Schmidt regelmäßig einzeln mit Michael oder b) die Essenssituation wird entzerrt, indem Michael an einen Tisch mit weniger Kindern platziert wird oder indem sich Frau Schmidt beim Essen neben ihn setzt.

  4. Handlung: Das Team hat sich für Annahme a) entschieden. Frau Schmidt wendet sich sechs Wochen lang dreimal am Tag für zehn Minuten Michael zu. Das Team hält ihr dafür den Rücken frei.

  5. Überprüfen: Hat sich die Situation verbessert, sodass sich Michael nicht mehr mit störendem Verhalten ausdrücken muss? Falls nicht, kann das Team zu Variante b) der Analyse zurückkehren, Michael an einen Tisch mit weniger Kindern setzen und nach vier bis sechs Wochen überprüfen, ob das eine Verbesserung bewirkt hat.

Für den Erfolg seien ein offener Blick auf das Kind und ein wertschätzender, ehrlicher Umgang im Team entscheidend, so Fröhlich-Gildhoff. „Wichtig ist, dass sich die Kitas auf den Weg machen, sich zu qualifizieren und systematisch zu handeln.“ Das erleichtere den Fachkräften die Arbeitsbedingungen. „Wenn sie sich als handlungsfähiger erleben, geht es ihnen besser und die Arbeit macht mehr Spaß.“

Dr. Klaus Fröhlich-Gildhoff war bis 2020 Professor für Entwicklungspsychologie und Klinische Psychologie an der Evangelischen Hochschule Freiburg und gehört dem Leitungsteam des dort angesiedelten Zentrums für Kinder- und Jugendforschung (ZfKJ) an. Er ist Autor zahlreicher Publikationen zu den Themen Prävention, Gesundheitsförderung und Resilienz. Im Jahr 2021 erschien sein Fachbuch „Kinder mit herausforderndem Verhalten in der KiTa – Eine Handreichung für ressourcenorientiertes Handeln“ (zusammen mit Prof. Dr. Rieke Hoffer und Prof. Dr. Maike Rönnau-Böse).

Miteinander reden – statt übereinander

KURZ GESAGT!

_Werte und Teamregeln bieten Orientierung

_Perspektivenwechsel erleichtert gegenseitiges Verständnis

_Kritik nach „WHWW“ vorbringen: Wahrnehmen, Hinhören, Wirkung, Wunsch

Manuela ist genervt. Die Erzieherin stört es enorm, dass ihr Kollege Michael regelmäßig zu spät in die Kita kommt. Das Problem ist aber nicht nur Michaels Unpünktlichkeit, sondern auch, dass Manuela es ihm nicht sagt. „Einige Konflikte werden erst dadurch groß und immer größer, weil kleinere Unstimmigkeiten nicht angesprochen werden“, weiß Kathrin Hohmann. „Pädagogische Fachkräfte möchten oft die Harmonie wahren und unterdrücken daher Störungen, bis sich diese nicht mehr verbergen lassen. Der Ärger kann dann etwa in passiver Aggression münden.“ Also: Manuela ignoriert Michael absichtlich oder rollt hinter seinem Rücken genervt mit den Augen.

Es sind Unterschiede im Denken, Handeln und Fühlen, die zu Spannungen führen. Das können beispielsweise unterschiedliche Auffassungen über die pädagogische Arbeit sein. Zum Problem werden die Differenzen, wenn sie nicht oder nicht richtig angesprochen werden. Schlechte Kommunikation setzt Hergen Sasse mit verletzender Kommunikation gleich: „Immer, wenn wir uns verletzt fühlen, reagieren wir mit einem Abwehrimpuls.“ Das bedeutet: Der oder die Verletzte wägt nicht rational ab, sondern reagiert reflexartig mit Kampf oder Flucht. „Wir finden uns dann oft auf einem ‚Kriegsschauplatz‘ wieder, wo wir mit Worten um uns schießen und uns gegenseitig verletzen.“

Klare Strukturen geben Fachkräften Sicherheit

Um gut mit Konflikten umzugehen oder sie gar nicht erst entstehen zu lassen, sind die Orientierung an grundlegenden Werten und das Aufstellen klarer Teamregeln wichtig. Sie könnten etwa lauten: „Wenn niemand etwas sagt, ist alles gut“ oder „Wir reden nicht (schlecht) über andere, wenn sie nicht da sind“. Die Kitaleitung sollte diese Werte vorleben und klare Strukturen schaffen: „Das gibt den Fachkräften Sicherheit“, sagt Hergen Sasse. „Sie dürfen zum Beispiel in Teamsitzungen keine Angst haben, durch Kritik bloßgestellt zu werden.“ Im konkreten Konfliktfall rät der Kommunikationscoach, zu versuchen, die Perspektive des Gegenübers einzunehmen. Also Verständnis für die andere Position zu entwickeln – ohne dass man mit der Position einverstanden sein muss. Beim Gespräch sollte man nicht mit der Tür ins Haus fallen, sondern das Thema kurz anreißen, damit sich das Gegenüber darauf einstellen kann. Außerdem sollte geklärt sein, ob er oder sie in dem Moment überhaupt bereit ist, darüber zu sprechen.

Sind die Voraussetzungen erfüllt, hat sich die Kritik nach dem Muster „WHWW“ bewährt: Wahrnehmen, Hinhören, Wirkung, Wunsch. Ein Beispiel: _WAHRNEHMEN Ich habe bemerkt, dass du Tobias heute Morgen die Spielecke verboten hast. _HINHÖREN Was war denn da los? Was ist passiert? _WIRKUNG Wir haben uns im Team dar auf geeinigt, die Kinder auf Augenhöhe und ohne Strafen zu begleiten. _WUNSCH Ich wünsche mir, dass du die Konflikte mit den Kindern ohne Strafe löst. Oder dass du den Konflikt an jemand anderen abgibst, wenn du merkst, dass du gestresst oder genervt bist. Können wir uns darauf einigen oder hast du eine bessere Idee? Mediation als letzter Ausweg Viele Konflikte lassen sich im Team lösen. Sind die Fronten allzu verhärtet, hilft eine Mediation/Konfliktbegleitung durch eine neutrale Person. „Meiner Erfahrung nach ist neben einer punktuellen Mediation die Entwicklung einer Konflikt- und Teamkultur notwendig, damit Teams auch künftig präventiv und aus eigener Kraft mit Konflikten umgehen lernen“, erklärt Hergen Sasse.

Die Fachleute

Hergen Sasse ist Konflikt- und Kommunikationscoach, Autor des Buches „Konflikte lösen“, Fortbildner und Berater im Bereich Konfliktmanagement und Kommunikation – auch für Kitas: www.sozialundstark.com Kathrin Hohmann ist Kindheitspädagogin (M. A.), Doktorandin, Podcasterin („Auf die ersten Jahre kommt es an“), Autorin (u. a. „Gemeinsam durch die Wut“ und „Augenhöhe statt Strafen“) und Fortbildnerin und setzt sich für eine achtsame sowie bedürfnisorientierte Pädagogik ein: www.kathrinhohmann.de

 

Konfliktpotenzial in der Teamentwicklung

„Wenn sich Teammitglieder als aktive Mitgestalter verstehen und ihre Ideen einbringen können, fördert dies eine positive Identifikation mit der Arbeit und dem Team“, sagt Kathrin Hohmann. „Allerdings können strukturelle Probleme – wie unklare Rollen und Entscheidungsbefugnisse – Konflikte verursachen.“ Man unterscheidet vier Phasen der Teamentwicklung, in denen unterschiedliche Konflikte auftreten können.

  1. Forming: das Kennenlernen
  2. Storming: das Aushandeln von Rollen
  3. Norming: das Festlegen von Teamvereinbarungen und Gesprächsregeln
  4. Performing: die produktive Zusammenarbeit

„In diesen Phasen müssen die Konflikte angemessen angegangen werden, um das Team in Richtung einer effektiven Zusammenarbeit zu führen“, fasst Kathrin Hohmann zusammen.