„ Vermeiden Sie, das Trauma anzusprechen“

Trauma gilt oft als Metapher für alles Furchtbare. Was genau ist ein Trauma?

Trauma bedeutet zunächst Verletzung. Man kennt den Begriff „Trauma“ auch aus der körper­lichen Medizin. Man unterscheidet je nach Kon­text: Ist es eine körperliche Verletzung, die dem Organismus zugefügt wird, oder eine auch noch später bestehende Traumafolgestörung? Das wird oft vermischt. Ein kleineres Ereignis wie ein Hundebiss kann zwar durchaus ein Trauma auslösen – sowohl körperlich als auch psy­chisch –, wird aber vermutlich keine dauerhaf­ten Schäden verursachen. Wenn wir Fachleute von Trauma sprechen, meinen wir ein objektiv sehr schwerwiegendes Ereignis, das subjektiv ein tiefes Gefühl der Verzweiflung, Ohnmacht und Hilflosigkeit nach sich zieht. Das sind Ereig­nisse wie Überfälle, Missbrauch, Misshandlung, Folter, Krieg, der Tod eines nahen Angehörigen, schwere Verkehrsunfälle oder auch die Diag­nose einer lebensbedrohlichen Erkrankung.

In Kitas begegnen die Fachkräfte gelegentlich Kindern, von denen sie annehmen müssen, dass sie im oben genannten Sinn traumatisiert sind. Die Erzieherinnen und Erzieher sind dann oft voller Mitleid und reduzieren unbewusst das Kind auf seine Opferrolle.

Mitgefühl ja, aber bitte kein Mitleid. Traumatisierte Kinder brau­chen vor allem Sicherheit, Struktur und Stabilität. Diese Kinder müssen genauso normal behandelt werden wie andere. Sie aus Mitleid in eine Sonderrolle zu drängen, sie in Watte zu packen, schadet ihnen noch mehr. So entfernen sie sich noch weiter von der Normalität. Aber die ist das A und O. Mag ein Kind vielleicht außerhalb der Kita in weiterhin traumatisierenden Kontexten leben, so erfährt es doch wenigstens während des Kitabesuchs Normalität und Sicherheit. Das ist unschätzbar wichtig.

Wie können pädagogische Fachkräfte in der Kita ein traumatisiertes Kind dabei unterstützen, seine Ressourcen zu stärken, damit es ein Trauma besser verarbeiten kann?

Sie können ein Kind immer wieder fragen: „Was würde dir jetzt gut­tun?“ Für diese Kinder sind verlässliche und zuverlässige Bezugs­personen zentral, die ihnen Struktur und klare Regeln geben, ohne sie zu bedrängen. Überbetreuung führt zu Passivität; diese hin­dert das Kind daran, eigene Bewältigungsstrategien zu erarbeiten. Salopp gesagt: Alles, was ich nach einem Trauma nur passiv erdulde, ertrage, erleide – also mit mir gemacht wird –, das macht mich krank. Alles, was ich selbst aktiv gestalte, hält mich gesund.

Kinder verfügen also über Bewältigungsstrategien?

Ja durchaus, aber die liegen häufig in dem Bereich, der ein oder zwei Entwicklungsstufen zuvor zu finden ist. Das Kind nässt wieder ein, es spricht wieder in Babysprache, möchte wie­der bei den Eltern schlafen oder einzelne kog­nitive Leistungen sind nicht mehr möglich. Das Kind geht quasi zurück und nimmt einen neuen Anlauf. Das ist eine komplett normale Reaktion und kein Grund zur Sorge.

Die Befürchtungen vieler Erzieherinnen und Erzieher sind, sie könnten im Umgang mit traumatisierten Kindern etwas falsch machen und ihnen letztlich nicht gerecht werden, da sie dafür nicht ausreichend geschult seien.

Niemand muss Angst vor „Trauma“ haben. Erzie­herinnen und Erzieher können nicht viel falsch machen, wenn sie dem Kind mit Normalität, Verständnis und Fürsorge begegnen – also das, was bei anderen Kindern auch zählt. Man sollte aber unbedingt vermeiden, das Trauma direkt anzusprechen und konkret über die Gefühle zu sprechen. Wenn das Kind dies von sich aus tut, ist es wichtig, sofort Fachpersonal hinzu­zuziehen. Bei Missbrauch etwa muss abgeklärt werden, ob eine Straftat vorliegt. Dann also niemals selbst das Kind bezüglich der traumatischen Ereignisse befragen, sondern dies immer und unbedingt den Profis überlassen. Hier muss sofort das Jugendamt eingeschaltet werden, denn die Erstaussage ist essentiell für eine mögliche Strafverfolgung.

In Bezug auf Kinder mit Kriegs- und Fluchterfahrung etwa aus der Ukraine gibt es eine ganze Bandbreite, was Kinder erlebt haben. Wie kann eine Fachkraft feinfühlig herausfinden, wie sich ein Kind fühlt, wenn sie nicht gezielt nachfragen soll?

Tatsächlich ist es nicht wesentlich, etwas Genaues zu wissen. Den Kindern geht es gerade meistens recht gut, denn sie sind nach der Flucht nun hier bei uns in Sicherheit. Sie sind keines­falls alle traumatisiert. Wieder: So normal sein, wie es irgendwie geht. Über Spielen und viel Bewegung erreicht man oft mehr als über ein Gespräch. Die Fachkräfte müssen hier nicht anders agie­ren als bei anderen belasteten Kindern. Vieles klären Kinder auch spielerisch mit ihrer Peergroup. Wenn ein Kind allerdings sehr passiv ist, kaum spricht und viel weint, kann akute therapeuti­sche Hilfe angezeigt sein.

Wo findet Kitapersonal fachliche Unterstützung für ein traumatisiertes Kind?

Einen Therapieplatz zu bekommen ist in Deutschland leider oft mit langen Wartezeiten verbunden. Kitas können sich aber an Trauma­ oder Erziehungsberatungsstellen wenden, die es inzwi­schen in fast jeder größeren Stadt gibt. Diese können zwar nicht die Therapie leisten, stehen aber gern mit Rat und Tat in einem spezifischen Fall zur Seite und zeigen Hilfsmöglichkeiten auf.

Das kompetente Team

Ein Kitateam ist verunsichert, ob es ausreichend gut geschult im Umgang mit traumatisierten Kindern ist. Was ist Ihr Rat?

Es ist sinnvoll, sich mit dem Thema Trauma bewusst aus­einanderzusetzen, schon bevor es akut wird. Es hilft zu reflektieren, welche Vorerfahrungen und welches Wissen es dazu bereits gibt – im Gesamtteam, aber auch von Ein­zelnen, etwa durch andere berufliche Stationen. Doch auch in ihrer täglichen Arbeit leisten Kitateams schon sehr viel, was diesen Kindern guttut, sodass sie sich willkommen und geborgen fühlen können.

Was hilft dem Team noch?

Ich rate dazu, Listen anzufertigen mit geeigneten Bera­tungsstellen, Psychologen oder Psychotherapeutinnen und so weiter. Alles sammeln und die Telefonnummern und E­-Mail­-Kontakte aktuell halten. So hat man im Notfall direkt etwas, worauf man schnell zurückgreifen oder das man den Familien an die Hand geben kann.

Ist es für die tägliche Arbeit wichtig, mehr über die körperlich-seelischen Auswirkungen eines Traumas zu wissen?

Es kann auf keinen Fall schaden, wenn Fachkräfte eine grundsätzliche Vorstellung davon haben, was genau im Körper eines traumatisierten Menschen passiert. So entwickeln sie ein Verständnis für das Verhalten und dadurch mehr Feingefühl im Umgang mit dem betroffenen Kind. Aber wie tief ein Team in die Thematik einsteigt, liegt in dessen Ermessen. Genauso wie die Frage, wie viel Zeit das Team dafür investieren möchte oder kann. Es gibt dazu viele Ange­bote: von zweistündigen Online­-Seminaren bis hin zu mehr­tägigen Fortbildungen.

Reicht das aus, um ein kompetentes Team zu sein?

Ich denke, ja. Die Einrichtung kann und soll nicht therapeu­tisch arbeiten. Es geht darum, dem Kind einen guten und sicheren Rahmen zu bieten, in dem es wieder Kind sein kann. Das ist das Wichtigste und passiert in den Einrichtun­gen ja jeden Tag ganz automatisch.

Echt praktisch

Nicht jedes Kind, das schlimme Erfahrungen gemacht hat, ist traumatisiert. Davon wie selbstverständlich auszugehen, kann den Blick auf die Stärken und Ressourcen des Kindes verstellen. Der Beitrag rückt diesen Aspekt kritisch in den Fokus: www.klett-kita.de/blog/das-unsichtbare-kind

Ein Sonderheft von „Kindergarten heute“ beschäftigt sich ausschließlich mit Traumapädagogik in der Kita. Es kann für 15,00 Euro unter dieser Adresse bestellt werden: https://kurzelinks.de/4w4h

Das Niedersächsische Institut für frühkindliche Bildung und Entwicklung (nifbe) hat eine ganze Reihe an Fachbeiträgen zum Thema im Angebot: https://kurzelinks.de/trauma-nifbe

Im Kontext des Kriegs in der Ukraine hat das bayerische Staatsinstitut für Frühpädagogik und Medienkompetenz (IFP) einen Wegweiser für Fachkräfte geschrieben, wie sie geflüchtete Kinder gut begleiten können. Zu finden ist er hier: https://kurzelinks.de/ifp-ukraine

Im Podcast „Gedankenspiel“ des sächsischen Modellpro­gramms Willkommens­KITAs berichtet Traumapädagogin Heike Krakau von der Arbeit mit traumatisierten Kindern. Nachzuhören hier (Folge 6): https://willkommenskitas.de/material/podcast/

Informationen für alle, die mit traumatisierten Kindern und Jugendlichen zu tun haben. Das bietet die Broschüre „Trauma – was tun?“. Sie lässt sich bei der Unfallkasse Berlin in vielen Sprachen herunterladen: www.unfallkasse-berlin.de, Webcode: ukb1135