An einem Strang ziehen

Was macht eine gute Zusammenarbeit der pädagogischen Fachkräfte mit den Eltern eines verhaltensauffälligen Kindes aus?

Dr. Eliane Retz: Es hilft nicht, wenn sich Eltern und Fachkräfte gegenseitig die Schuld für das Verhalten des Kindes zuweisen und sich so die Fronten verhärten. Wichtig ist, dass beide Seiten das Wohl des Kindes in den Mittelpunkt stellen und sich zusammen überlegen, was sie jeweils dazu beitragen können, dass es dem Kind besser geht.

Wie kann das gelingen?

Über das Ziel herrscht meist Einigkeit, über den Weg dahin nicht immer. Eine gute Erziehungspartnerschaft ist aber genau dadurch gekennzeichnet, dass es beide Seiten dann schaffen, einen Schritt auf die andere zuzugehen und sich wieder anzunähern. Jedes Kind und jede Familie ist individuell zu betrachten. Deshalb gibt es kein Patentrezept, Fachkräfte müssen flexibel auf die Herausforderungen eingehen. Es kommt auch darauf an, warum das Kind sein herausforderndes Verhalten an den Tag legt. Und auch, wo es das tut – in der Kita oder zu Hause.

Ist es für die Fachkräfte nicht unerheblich, wenn sich das Kind zu Hause problematisch verhält? Es stört damit den Betriebsablauf in der Kita ja nicht.

Nicht unbedingt. Es kann zum Beispiel sein, dass sich ein Kind in der Kita nicht wohlfühlt, sich aber den Tag über zusammenreißt. In der Familie gerät es dann in einen dysregulierten Zustand, was sich etwa in starken Wutausbrüchen ausdrücken kann. Das hängt unter Umständen mit der Qualität der Betreuung zusammen und sollte von der Kita hinterfragt werden. Auch störendes Verhalten in der Kita kann verschiedenste Ursachen haben. Vielleicht müsste ein U3-Kind einfach früher schlafen und ist deshalb mittags so müde, dass es dann mit dem Essen wirft. Man sollte als Einrichtung also erst einmal über-legen, ob man an einigen Stellschrauben drehen kann, damit sich das Kind wohler und sicherer fühlt.

Und wenn es nicht daran liegt, sondern das Kind wieder holt beim Mittagessen stört und sogar aggressiv gegenüber anderen Kindern wird? Wie spreche ich das Verhalten am besten bei den Eltern an?

Formulierung und Ansprache sind wichtig. Es passiert leider, dass pädagogische Fachkräfte zu Eltern beispielsweise sagen, ihr Kind habe ADHS oder eine autistische Störung. Dabei liegen solche Zuschreibungen oder Diagnosen gar nicht in ihrem Kompetenzbereich. Außerdem sind negative Rückmeldungen immer ein ganz heikler, verletzlicher Punkt. Denn die Kinder sind schließlich das, was die Eltern am meisten lieben. Also kann ich dann lieber vorsichtig eine Vermutung äußern: „Uns ist aufgefallen, dass euer Kind gerade gestresst wirkt.“ Oder: „Es wäre ganz gut, wenn ihr mit dem Kinderarzt mal über das Thema sprechen würdet.“ Eine wohlwollende Haltung spüren die Eltern in der Regel schnell.

Wie erkennen die pädagogischen Fachkräfte, dass ihre Grenzen erreicht sind?

Wenn ein einzelnes Kind durch sein Verhalten unverhältnismäßig viele Ressourcen auf sich zieht oder die Stimmung in der Gruppe leidet, wenn also andere Kinder vielleicht Ängste entwickeln und nicht mehr gerne in die Kita kommen. Ich finde es gut, wenn die Kita dann ein paar Adressen parat hat, die sie den Eltern empfehlen können: eine gute Stelle für eine Familienberatung, ein guter Heilpädagoge oder eine gute Kinderpsychotherapeutin. Das ist gleichzeitig eine freundliche Aufforderung an die Eltern, aktiv zu werden – auch wenn die Wartezeiten mitunter lang sein können.

Wie kann ich reagieren, wenn die Eltern dichtmachen? Wenn sie also sagen: „Stimmt nicht, unser Kind ist doch nicht aggressiv!“

Als Fachkraft habe ich eine Fürsorgepflicht. Dem Kind gegenüber, dem es nicht gut geht und das durch sein Verhalten auffällt. Aber auch den anderen Kindern gegenüber. Ab einem gewissen Punkt wird es aber zu einer Angelegenheit für die Kitaleitung. Die ist dann mit Führung und Klarheit gefragt. In dem Moment, wo die Leitung mit ins Boot geholt wird, bekommt ein Gespräch für die Eltern eine ganz andere Tragweite und Relevanz. Die Leitung sollte die Gruppe in den Vordergrund rücken und deutlich ansprechen, dass es mit dem Verhalten ihres Kindes so nicht weitergehen kann in der Einrichtung.

Haben Sie Tipps, wie Eltern und Fachkräfte ein besseres Verständnis füreinander entwickeln können?

Ich weiß, dass pädagogische Fachkräfte kaum Ressourcen haben. Aber falls es geht, ist es immer gut, einen Hausbesuch anzubieten. So können sie die Familie besser kennenlernen und das Kind in seiner natürlichen Umgebung erleben. Solche Begegnungen helfen, den persönlichen Kontakt zu verbessern und Schwierigkeiten in der Kommunikation zu umschiffen. Umgekehrt kann es eine gute Idee sein, Eltern in der Kita hospitieren zu lassen. Dann können sie ihr Kind in Interaktion mit anderen Kindern erleben. Daraus kann eine größere Einsicht erwachsen – wenngleich man berücksichtigen muss, dass sich das Kind in Gegenwart der Eltern möglicherweise anders verhält.

Agieren statt reagieren

Kinder dürfen ruhig mal traurig sein, mal aufgedreht – und auch mal aggressiv. Sie lernen so, sich selbst zu behaupten und Grenzen zu setzen. Das ist Teil ihrer Entwicklung. „Erst wenn sich das Verhalten eines Kindes über einen längeren Zeitraum oder in besonders starker Ausprägung vom Verhalten Gleichaltriger unterscheidet, kann man überlegen, von einer Verhaltensauffälligkeit zu sprechen“, sagt der Entwicklungspsychologe Herbert Scheithauer.

 

KURZ GESAGT!

_Ursachen für auffälliges Verhalten herausfinden

_Negatives Verhalten nicht durch Aufmerksamkeit verstärken

_Entwicklungsstand und Kontext sind wichtig

 

Auffälligkeit oder Temperament?

Doch auch in diesem Fall sollten Erzieherinnen und Erzieher noch zwei wichtige Aspekte bedenken. Erstens: Stimmt meine Wahrnehmung? Verhaltensauffälligkeiten würden gelegentlich mit Temperamentsunterschieden verwechselt, weiß Scheithauer. So könne etwa eine ruhige Erzieherin das Verhalten eines sehr lebhaften Kindes leicht als problematisch wahrnehmen. Zweitens: Auch Kinder derselben Altersgruppe können sehr unterschiedlich sein in ihren Wesenszügen und den Kompetenzen, die sie mitbringen. „Das muss keine Verhaltensauffälligkeit sein“, betont der Professor der Freien Universität Berlin. „Es kann sein, dass das eine Kind in seiner sozialen und emotionalen Entwicklung noch nicht so weit ist wie das andere.“

Erzieherinnen und Erzieher sollten versuchen, die Ursachen für das problematische Verhalten herauszufinden. In der Regel wissen sie, ob das Haustier gestorben ist, ein Brüderchen geboren wurde oder die Eltern gerade Streit haben. Das Risiko von auffälligem, aggressivem Verhalten ist vor diesem Hintergrund erhöht. Aber es sollte sich bald wieder einrenken.

Anders gelagert ist der Fall, wenn Kinder bereits aggressives Verhalten erlernt haben, etwa durch Modelle in der Familie oder in den Medien. „Ein Elternteil schreit häufig und setzt durch dieses aggressive Verhalten seine Ziele durch“, veranschaulicht Scheithauer exemplarisch. „Das Kind lernt: So erreiche ich, was ich will. Und so verhält es sich dann auch in der Kita.“ Was bei diesen Kindern helfen kann: in diesem Moment nicht auf das unangemessene Verhalten eingehen. Sonst lernt das Kind, dass es tatsächlich Aufmerksamkeit bekommt, wenn es schreit, tobt, Quatsch oder Krach macht – selbst wenn die Aufmerksamkeit aus Ermahnungen besteht. Das negative Verhalten wird somit noch verstärkt. Stattdessen sollten sich die Fachkräfte dem Kind dann zuwenden, wenn es sich nicht mehr unangemessen oder sogar positiv verhält: „Toll, Jochen, was du da mit Lego baust! Das sieht wirklich schön aus“, nennt Scheithauer ein Beispiel.

Überhaupt blühen Kinder regelrecht auf, wenn sie angemessen Lob erhalten. Haben Kinder positives, prosoziales Verhalten gezeigt, sollte das Kitapersonal ihnen das auch sagen. „Jochen, das hast du toll gemacht, dass du den Bauklotz abgegeben hast. Guck mal, wie Jacqueline sich freut, dass sie jetzt mitspielen kann“, veranschaulicht Scheithauer. „Auf längere Sicht habe ich dadurch viel dafür getan, dass sich seltener aggressives Verhalten zeigt.“

Zum Nachdenken und Nachfühlen anregen

Wird ein Kind gegenüber anderen aggressiv, hilft es, ihm die Auswirkungen seines Verhaltens zu verdeutlichen und es zum Nachdenken anzuregen. Scheithauer: „Jochen, wenn du ihr den Bauklotz wegnimmst: Was meinst du, wie Jacqueline sich dabei fühlt? Wie würdest du dich fühlen?“ Dafür müssen die Kinder in der Lage sein, ihr eigenes Verhalten regulieren und sich in andere hineinversetzen zu können. Eine Frage des Alters und des Entwicklungsstandes sowie des Kontextes.

Zum Kontext gehört auch, die Wahrnehmung und Bedürfnisse der Kinder einer Gruppe im Blick zu haben und auszutarieren. Ein sehr lebhaftes Kind in einer sehr ruhigen Gruppe oder zwei sehr lebhafte Kinder in derselben Gruppe – beides könnte problematisch werden. „Als Erzieherin muss ich sehr feinfühlig sein und die Kinder auf eine Ebene bringen“, sagt Scheithauer.

Das funktioniert über klare Regeln, die in der Kita aber nicht starr festgelegt sein, sondern für die Entwicklung genutzt werden sollten. Beispiel Bauklötze: Nicht alle können immer damit spielen. Jochen hätte zwar Lust darauf, wäre aber eigentlich nicht dran. „Jochen ist heute traurig. Wollen wir ihm nicht einen Bauklotz abgeben?“, beschreibt Scheithauer ein Szenario. Gesagt, getan. „Und dann erleben Kinder etwas total Schönes im zwischenmenschlichen Bereich.“

Die Kinder mit proaktivem Verhalten zu erreichen, ist für Herbert Scheithauer der Schlüssel für einen wertschätzenden Umgang miteinander: „Dann werde ich in Zukunft mit geringerer Wahrscheinlichkeit aggressives Verhalten erleben.“

 

Verhaltensauffälligkeiten

  • Verhaltensdefizit: Kinder sind sehr ruhig und emotional gehemmt. Sie haben beispielsweise Ängste, sind sehr schüchtern und ziehen sich zurück.
  • Verhaltensexzess: Kinder zeigen hyperaktives oder aggressives Verhalten in hoher Frequenz und sehr intensiv. Sie sind beispielsweise leicht ablenkbar oder impulsiv, sie schlagen und treten andere oder beschädigen Gegenstände.
  • Verhaltensstörung: Kinder zeigen konstant über einen langen Zeitraum ein Bündel negativer Verhaltensweisen. Sie sind beispielsweise sehr egoistisch, können sich nicht gut in andere hineinversetzen und sind unsensibel gegenüber Gefühlen anderer, ihnen fehlt es an Schuldbewusstsein, sie deuten das Verhalten anderer falsch und reagieren darauf mit Gewalt, sie drangsalieren andere oder quälen Tiere.

Bei einigen Kindern lässt sich mit erzieherischen Maßnahmen nichts mehr bewirken, sodass ein Kinder- und Jugendpsychologe hinzugezogen werden sollte. Ist ein Kind gegenüber anderen über einen längeren Zeitraum aggressiv und gewalttätig, sollte die Kita das Gespräch mit den Eltern suchen.