Die Dinge hinterfragen

Worin liegen die Chancen früher MINT-Bildung?


Verónica Oelsner: Die Kinder sind neugierig und wollen die Welt verstehen, sie staunen über Dinge und Phänomene, die sie beobachten, sie probieren viele Sachen aus und stellen uns Erwachsenen unzählige Fragen. Warum schwimmt das Boot, aber der Stein nicht? Warum landet mein Hausschuh, wenn ich ihn in die Luft werfe, meistens auf der Sohle? Wie kommt das Bild ins Handy? Die Pädagoginnen können diese Fragen aufgreifen und gemeinsam mit den Kindern nach Antworten suchen. Wenn sie das tun, fördern sie etwas ganz Grundlegendes: eine fragend-forschende Haltung, die wichtig ist für eine konstruktive, offene Auseinandersetzung mit der Welt. Wenn das in den ersten Lebensjahren passiert, legt dies einen sehr wichtigen Grundstein.

Geht es darum, den Forschergeist zu wecken und zu erhalten, da – mit die Kinder später einmal beruflich ‚etwas mit MINT‘ machen?

Es geht darum, Interesse für MINT zu wecken, aber das ist nicht das einzige Ziel. Es geht auch ganz stark darum, eine Haltung gegenüber der Welt zu entwickeln, ein Verständnis für Zusammenhänge. Diese Haltung fördert die Fähigkeit, Dinge hinterfragen zu können: Wie kommt jemand zu diesem Schluss, woher stammen die Zahlen, wer sagt das auf welcher Grundlage? Das gehört nach meiner Meinung zu einer Mündigkeit im Denken dazu – egal ob jemand Physiker ist oder am Schalter bei der Post arbeitet. Mit früher MINT-Bildung bekommen die Kinder dafür das Werkzeug.

Wird deshalb in den Bildungsplänen der Länder die MINT- Bildung für den Elementarbereich herausgehoben?


Ja richtig. Die Verantwortlichen haben die Chancen erkannt und möchten diese forschend-lernende Haltung fördern. Fragen zu stellen, Vermutungen nachzugehen, sich auf den Weg zu machen, Ideen zu entwickeln, einen Plan zu machen, Antworten herauszufinden, natürlich auch gemeinsam mit anderen. Beobachten, dokumentieren, argumentieren … Das ist alles enorm wichtig für die MINT-Fächer, aber auch weit darüber hinaus.


Funktioniert MINT-Bildung im Einklang mit jedem pädagogischen Konzept, zum Beispiel mit offenen Gruppen und einer hohen Partizipation der Kinder?


Ich denke, das kann sich wunderbar ergänzen. Gute MINT-Bildung fördert ja nicht nur MINT-Kompetenzen, sondern auch Sozialkompetenzen, Sprachkompetenzen, Problemlösekompetenzen. Die Kinder lernen sich abzustimmen, Aufgaben zu verteilen, sich auf ein Vorgehen zu einigen. Das lässt sich sehr gut mit einem partizipatorischen Ansatz verbinden. Und ob offene oder geschlossene Gruppen – auch das ist letztlich egal. Ich sehe da keine Hindernisse.


Ich könnte mir vorstellen, dass für manchen Erzieher und manche Erzieherin dieses Themenfeld fremd ist und es Vorbehalte und Ängste gibt. Was benötigen die pädagogischen Fachkräfte für Voraussetzungen, um diesen Bildungsprozess gut begleiten zu können, wie nimmt man ihnen die Befürchtungen?


Ich denke, die zentrale Voraussetzung bei den pädagogischen Fachkräften ist ihre offene Haltung gegenüber den Fragen der Kinder. Dass sie beobachten, womit die Kinder sich beschäftigen, und darüber in den Dialog treten sowie sie beim forschenden Lernen ermuntern und unterstützen. Dazu gibt es im Kita-Alltag unzählige Anlässe. Ganz wesentlich ist auch ein Verständnis von sich selbst als Lernende. Es geht nicht darum, alles von vornherein zu wissen, den Ausgang eines Versuchs zu kennen oder die Antwort auf die Kinderfragen. Ich als Lernende bin bereit, mich ganz offen gemeinsam mit den Kindern mit einer Frage auseinanderzusetzen. Das ist das Konzept der Ko-Konstruktion.


Dem steht gegenüber, dass es zahlreiche Bücher mit Experimenten für Kinder gibt. Auf einer Art Lösungsblatt kann die Fachkraft nachlesen, was da genau passiert und wie sie es den Kindern erklären kann.


Diese Experimente haben durchaus ihre Berechtigung. Sie können die Neugier wecken. Zu einer guten MINT-Bildung gehört aber mehr. Mindestens genauso wichtig wie die wissenschaftlich korrekte Antwort ist nämlich der Prozess, wie es zu dieser Antwort kommt. Die Kinder werden Fragen stellen und Vermutungen äußern. Und dann beginnt es, spannend zu werden. Die Fachkräfte sollten sich darauf einlassen und diesen Weg begleiten. Es kann dabei sogar hinderlich sein, die Erklärung bereits zu kennen, nämlich dann, wenn sich die Fachkraft mit ihrem Wissen nicht zurückhält.


Also ergibt sich alles aus der Situation?


Vieles, aber sicherlich nicht alles. Die Fachkraft kann und soll auch Vorschläge machen. Unsere Aufgabe als Erwachsene und Pädagogen oder Pädagoginnen ist es, bestimmte Interessen zu wecken, sie zu fördern und die Welt der Kinder zu erweitern. Wir können Fragen der Kinder aufgreifen, aber auch Themen und Angebote vorschlagen. Die Kunst besteht darin, dass diese altersgemäß sein und den Interessen der Kinder entsprechen sollten.


Wie ernst muss man die Kritik nehmen, Unternehmen trügen ihre eigenen Interessen in den Elementarbereich, indem sie Fortbildungen und Material finanzieren?


Die Frage haben wir uns zu Beginn der Partnerschaften, von denen ein Teil unternehmensnahe Stiftungen sind, natürlich auch gestellt und deshalb für uns klare Rahmenbedingungen für eine Zusammenarbeit festgelegt. So liegt die inhaltliche Entwicklung der didaktischen Materialien und der Fortbildungen komplett in unseren Händen. Darauf haben die Partner keinen Einfluss. Und die Erfahrungen zeigen zudem, dass es ihnen nicht ausschließlich um die Nachwuchsförderung und Ausbildung zukünftiger Fachkräfte geht, schon gar nicht für ihre eigenen Unternehmen. Es geht unseren Partnern um das Fördern der beschriebenen Haltung und um das Interesse an Bildung und Lernen ganz allgemein. Und das kommt der Gesellschaft als Ganzes zugute.

UNSERE GESPRÄCHSPARTNERIN
Als Fachleiterin bei der Stiftung Kinder forschen begleitet die Erziehungswissenschaftlerin Dr. Verónica Oelsner die Entwicklung von Materialien und Fortbildungen für pädagogische Fach- und Lehrkräfte im Bereich der frühen Bildung für nachhaltige Entwicklung.

„Wir haben adultistisches Verhalten verinnerlicht“

Ist adultistisches Verhalten nicht unvermeidlich? Erwachsene haben nun einmal mehr Erfahrung als Kinder und manche Dinge in der Kita laufen nicht, wenn die Erwachsenen keine klaren Ansagen machen.

Fea Finger: Solche Situationen gibt es natürlich. Die Frage ist: Wie verhalte ich mich dann? Wie formuliere ich das? Nehme ich mir die Zeit, es dem Kind zu erklären? Da ist oft die Sorge: Dann wartet meine Kollegin und hat kein Verständnis dafür. Deshalb meine ich, müsste sich ein Team viel mehr austauschen und sich auf eine grundsätzliche Haltung Kindern gegenüber verständigen, was dafür nötig ist, dass sie sich wohlfühlen. Mal ehrlich: Wie ginge es Ihnen, wenn Ihre Wünsche und Bedürfnisse regelmäßig als unwichtig und belanglos abgetan würden?

Wo kommt das adultistische Verhalten her?

Wir alle sind in adultistischen Strukturen sozialisiert worden. Wir hinterfragen das nicht, wir haben das verinnerlicht. Es ist im Grunde eine alltägliche, strukturelle Diskriminierungsform. Wir haben als Kinder gelernt: Wenn ich mal erwachsen bin, dann habe ICH das Sagen. Und das ist bei pädagogischen Fachkräften nicht anders. Manche sind in den Beruf gestartet mit der Idee, Kinder „erziehen“ zu wollen. Ziehen, also die Richtung vorgeben. Das muss man reflektieren und versuchen zu verstehen, an wie vielen Stellen sich ein erwachsener Mensch zurücknehmen muss, damit Kinder eigene Erfahrungen machen und dabei lernen können.

Manche Dinge muss eine Fachkraft entscheiden, etwa um das Kind zu schützen. Da stellt sich die Frage: Adultismus oder Fürsorge?

Worüber die Fachkraft auf jeden Fall entscheiden muss, ist der grundsätzliche Tagesablauf. Besonders im Krippenbereich werden Erwachsene vieles bestimmen müssen. Da gibt es aber individuell durchaus noch Spielräume und es kommt darauf an, wie ich es dem Kind vermittele, ohne es zu etwas zu zwingen, das es partout nicht möchte. Manche können mit zwei Jahren entscheiden, ob sie eine Windel möchten, andere können das nicht. Manche können in dem Alter sicher klettern, andere nicht. Manches ist auch tagesformabhängig. Die Fachkräfte sollten der Individualität jedes Kindes Rechnung tragen. Zur Frage, wann ist Fürsorge Adultismus? Wann ist Partizipation Überforderung? Darauf gibt es keine eindeutige, pauschale Antwort; es spielen zu viele Komponenten mit hinein.

Spätestens wenn Kinder in die Schule kommen, müssen sie sich an ganz viele Regeln halten. Wird das nicht schwierig für sie, wenn sie es in der Kita nicht üben?

Daraus spricht die Sorge, die Kinder nicht gut genug vorzubereiten. Tatsache ist aber: Die Kinder, die jetzt groß werden, brauchen in der Zukunft ganz andere Dinge und Kompetenzen als die Kinder, die wir einmal waren. Wir werden sie nicht auf alles vorbereiten können. Kitas sind aber keine Vorbereitungseinrichtungen für die Schule, sondern ein eigener Lebensabschnitt. Noch eine Kehrseite: Wir kommen von der Kita in die Schule und machen, was man uns sagt. Irgendwann sind wir erwachsen und sollen plötzlich selbst entscheiden. Alle erwarten, dass wir jetzt wissen, was für uns gut ist. Aber wir haben das nie gelernt. Das finde ich schwierig.


Sie sprechen davon, dass Adultismus eine strukturelle Diskriminierungsform ist. Warum?

Wir alle haben als Kinder erfahren: Es ist in Ordnung, eine bestimmte Gruppe von Menschen aufgrund willkürlicher Merk-male – etwa dem Alter – auszugrenzen, abzuwerten oder ihnen Rechte und Fähigkeiten abzusprechen. Das setzt sich unbewusst fort, weil dieses Verhalten internalisiert wurde.


Sie sagen, wir haben adultistisches Verhalten verinnerlicht. Wie kann man es dennoch erkennen und etwas dagegen machen?

Eine gute Frage ist dann: „Würde ich in dieser Situation auch mit einem erwachsenen Menschen so umgehen?“ oder noch besser: „Würde ich wollen, dass man mit mir so umgeht?“ Letztlich ist es eine Haltungsfrage. Wenn ich Kinder als eigenständige Persönlichkeiten akzeptiere, dann kann ich mich automatisch nicht mehr ganz so adultistisch verhalten. Veränderungen beginnen mit der Reflexion und erfolgen in kleinen Schritten.


Wie kann eine Fachkraft ihr Team für das Thema sensibilisieren?

Auch in kleinen Schritten. Nicht das ganze Team in den Blick nehmen, sondern die Kollegin, zu der ich einen guten Draht habe und mit der ich mich ohnehin viel austausche. In solchen Konstellationen geht das gut und von da ausgehend kann man den Kreis erweitern, es vielleicht in einer Teamsitzung aufgreifen und den Begriff „Macht“ als Aufhänger nehmen. Denn dadurch, dass die Erwachsenen in der Kita immer die Verantwortung tragen, haben sie natürlich auch eine gewisse Macht. Das im Team zu reflektieren und zu definieren ist sehr erhellend. Dann gilt es zu überlegen: Wie wollen wir in welchen Situationen mit den Kindern umgehen, wie viel Partizipation ist möglich und für uns machbar? Aber klar: Es ist ein Prozess.

Partizipation und Adultismus schließen sich aus?

Ja sicher. Partizipation ist in den meisten Bildungsplänen fest verankert. Es ist ein Kinderrecht. Es ist keine Frage von gutem Willen. Aber wenn ein Team überlegt, wie man das im Kita-Alltag umsetzen könnte, dann kommen diese ganzen eigenen Adultismuserfahrungen raus: „Ich dufte das auch nie“ oder: „Mir hat das auch nicht geschadet“.

Manche haben die Befürchtung, wenn man Kindern zu viele Wahlmöglichkeiten lässt und alles mit ihnen ausdiskutiert, landen wir wieder bei den antiautoritären Kinderläden der 70er Jahre.

Das sehe ich so nicht. Diese Befürchtung beruht, denke ich, auch auf dem internalisierten Adultismus und der Denke: Wenn wir den Kindern nicht genau vorgeben, wie es laufen muss, dann versinkt alles im Chaos. Es gibt ja Werte, die ich den Kindern vorlebe die sind nicht: Alle machen was sie wollen. Sondern: Ich nehme die Bedürfnisse des einzelnen Kindes wahr und gehe darauf ein. Das bedeutet eben nicht, jedem Wunsch nachzukommen, sondern ein Bedürfnis anzuerkennen. Dann spricht man darüber und tritt in eine Verhandlung ein. Und ja: Manchmal muss ich mich dem Kind anpassen. Manchmal ist es anstrengend. Aber wir sind immer noch sehr weit von Anarchie  und Chaos entfernt. Wir Erwachsenen haben immer die Verantwortung. Wenn etwas schief geht, können uns niemals damit herausreden, die Kinder hätten das so entschieden.

Sie geben Fortbildungen zu Adultismus. Was sind die häufigsten Anliegen der Teilnehmerinnen und Teilnehmer?

Vielfach gehen die schon reflektiert mit diesem Thema um und wollen Hinweise, wie sie Adultismus erkennen, wie sie es gegenüber der anderen Person ansprechen können, ohne anzuecken. Adultismus zeigt sich ja oft in Situationen mit übergriffigem Verhalten. Viele bewegt auch der Wunsch, typische Situationen zu identifizieren, in denen sie sich adultistisch verhalten.

Typische adultische Redewendungen

  • Weil ich das sage!
  • Solange du deine Füße unter meinen Tisch stellst, machst du, was ich will.
  • Wenn der Kuchen spricht, schweigen die Krümel.
  • Wenn du jetzt nicht…, dann…!
  • Dazu bist du noch zu klein.
  • Das kannst du noch nicht.
  • Das ist nichts für Kinder.
  • Das verstehst du noch nicht.